Freitag, 22. November 2024

Das große Missverständnis der Romantik

Wollte man die romantische Lyrik des beginnenden 19. Jahrhunderts zusammenfassen und ihr ein Gesicht geben, dann käme der junge Mendelssohn-Bartholdy dem recht nahe. Goethe lernte den Jungen bereits früh kennen, und glaubte darin ein neues Wunderkind vom Schlage Mozarts kennenzulernen. Bereits mit 15 Jahren (!) komponierte Mendelssohn seine erste Sinfonie, die in ihrer Vitalität, ihrem Ungestüm und purer Energie so einiges davonfegt, was man sonst aus der Romantik kennt. Da braust und stürmt ein Wind durch, wie man ihn vorher nur von Beethoven kannte, vereint mit mozartesquer Leichtigkeit und Heiterkeit.

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Schon in den frühen Werken wird jener stürmische Geist deutlich, der sich in ihrer Ruhelosigkeit in Richtung Romantik aufmacht, und dasselbe rastlose Suchen aufweist wie die Sinfonien Beethovens, in denen man stets das Verlangen und den Kampf des Komponisten selbst fühlt; aber Mendelssohn kämpft nicht mit den Noten, er ringt nicht mit der Musik, sondern sie fließt ihm leicht aus der Feder auf das Papier, eben in jener Leichtigkeit, die Mozart auszeichnete. Mendelssohn steht damit einerseits an der Schwelle zwischen den beiden großen musikalischen Epochen, schafft einen individuellen Klang, und ist doch wieder ganz Sinnbild jener deutschen Romantik, mit der man den Vormärz, den Rhein, den deutschen Wald, Eichendorff und die Sehnsucht nach der Natur verbindet. Denn neben dieser aufbrausenden Romantik stehen auch die lyrischen, langsamen, besinnlichen – und rein-heiteren Momente (ohne Schwermut!), die man bei der späteren deutschen Romantik vergeblich sucht. Das Violinkonzert greift diese Elemente auf und vereint sie.

Nicht nur deswegen sind Wagner und Mendelssohn Antipoden jenes faustischen Deutschtums, das heute beinahe vergessen ist. Sie sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, eben zwei Seelen in der Brust der deutschen Musikkultur. Bei Wagner erscheint das Pathos, das Bombastische, das Melancholische, das Tragische in voller Gänze; aber es scheint zugleich, dass keine Wagner-Figur irgendetwas sagen kann, ohne dass es tiefdeutschen Ernst verlangt. Selbst eine Szene beim Bäcker hätte Wagner wohl mit teuflisch-infernalen Klängen unterlegt, zusammen mit einer ausgewalzten Arie über die vielen Gedanken, die den Helden in der Schlange verzweifeln lassen; über den Kummer über das Geld, das er bereits im Kopf vorher zusammenzählt, da er die Preise zusammenrechnet; und zuletzt die heldenhafte Tat – untermalt von Posaunen, Hörnern und brachial-männlicher Stimme – als der Käufer nunmehr an der Reihe ist, „den gar lieblichen Laybe Broth“ verlangt, und dann im Todeskampf ringend wieder aus der Bäckerei auf einem Pferd herausreitet.

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Viele sehen Wagner in der Nachfolge Beethovens, Mendelssohn dagegen in der Nachfolge Mozarts. Das ist grundfalsch. Beethoven hatte als Rheinländer Humor. Zumindest ist mir keine Wagner-Ouvertüre oder Wagner-Arie bekannt, in der die Wut über einen verlorenen Groschen eine Rolle spielt.

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Aber mit dieser mythisch-deutschen Ernsthaftigkeit, mit diesem tiefen Sinnieren über alle Kummer und Plagen (meist, bevor sie entstehen), und dem Hang zum Großen und Ganzen, „dem Prinzip“ um das es geht, versinnbildlicht Wagner eben jene deutsche Seite, die auch heute über Umwege immer noch das typisch deutsche Bild zeichnen. Dieses Denken „im Prinzip“ drückt sich in handwerklicher deutscher Genauigkeit, beamtendeutscher Paragraphenreiterei, und deutscher Konsequenz aus – letzteres kann zu bahnbrechenden wissenschaftlichen, musischen und technischen Leistungen enden, oder der effizienten Ausrottung ganzer Völker. Das muss man leider mal ganz offen sagen. Was der Deutsche macht, macht er ganz und vollkommen.

Schlimm wäre es, wenn nicht. Jedes Volk hat seine Mentalität und seine höhere Aufgabe. Für die Heiterkeit kann man immer noch ein paar Iren, und für den Humor ein paar Engländer engagieren. Aber bitte nicht beide zusammen.

Was ist nun die Rolle Mendelssohns? Die späteren Romantiker – allen voran der erwähnte Wagner – hatten als Deutsche natürlich ganz genaue Vorstellungen, wie Romantik sein und funktionieren müsste. Mendelssohn passte ihnen da nicht ins Konzept. Der heitere, aller Schwermut entkoppelte Mendelssohn, in dessen Musik das Leben selbst pulsierte (aber eben kein Gedanke daran) erschien seinen Nachfolgern als zu flach. Richtig heiß wurde die Sache, als Wagner die Sache aufs Völkische runterbrach, und Mendelssohn als Vertreter des Judenthums in der deutschen Musik ansah. Jüdische Musik könne nur eine Kopie sein, und eben nicht die Tiefe oder den Gedanken des Ideals fassen, wie es die Deutsche Musik täte.

Da kommen wir wieder an eine typisch deutsche Angelegenheit, die sich quer durch die eigene Geschichte zieht: der Idealismus. Von Luther, der seine eigene Vorstellung vom Christentum hatte („so muss das sein! Und nicht anders!“) über die Weimarer Klassiker und ihren idealistisch-antiken Vorstellungen bis hin zum deutschen Idealismus der Philosophie spielt hier wieder das „Prinzip“ (oder: Prinzipienreiterei?) eine Rolle. Paradoxerweise ist selbst der Materialismus von Marx und Engels ein Idealismus, obwohl er sich im Grunde als genaues Gegenteil verstand – denn auch die Theorie eines „idealen Staates“, der sich am Ende im Kommunismus zeige, ist nun einmal nichts anderes als ein höheres Ideal. Auch hier wieder die faustische Seite des Deutschtums: einerseits brachte dieser Idealismus die Dramen Schillers, Goethes Werke, Beethovens Sinfonien und Kants Geistesflüge hervor; zugleich ist er Urheber des Protestantismus und des Dreißigjährigen Krieges, eines übersteigerten Nationalchauvinismus und letztendlich des Marxismus (einschließlich aller seiner roten und braunen, sozialistischen Nuancen mit ihren jeweiligen Diktaturen). Wie immer haben die Deutschen die Welt mit dem Schönsten, Wahrsten und Besten, sowie der Hölle auf Erden beehrt.

So begingen die späteren Generationen den größten Fehler der Kulturgeschichte, indem sie Mendelssohn von einem Deutschen in einen Juden ummünzten – nichts ist falscher! Denn ebenso wie Heine eben mit seinem Spott, und mit seiner Kritik an Deutschland, den Deutschen und der ewigen Frage, was deutsch sei, das Deutschtum geradezu plastisch auf den Punkt bringt – ist auch Mendelssohn allein in seiner Person ein Sinnbild jenes alten, verwunschenen Deutschlands der Wälder, der Küstennebel, der violettroten Bergsonne am Abend, der Grimm’schen Märchen und der Loreley. Es ist jene Unschuld, jenes Bilderbuchdeutschland, das man als Kind am Abendbett als Geschichte vorgelesen bekommt. In Mendelssohns Musik hört man etwas Reines, Unbefangenes, Unverdorbenes. Das ist jenes geträumte Deutschland, das fern von Fabriken, fern von Ideologie, fern von der Welt ist und das nur in der Sprache seiner Kunst lebt. Die Lieder ohne Worte erinnern daran, dass Deutschlands Musik Deutschlands Seele ist. Sie sind das deutsche Gefühl der Innigkeit.

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Kommen wir zu Mendelssohn-Bartholdys Leben, das nichts anderes ist, als das Ideal eines Romantikers aus jener Zeit: geboren in Hamburg am 3. Februar 1809, mit einem berühmten Philosophen als Großvater. Aus jüdischer Familie stammend, aber völlig im christlich-reformierten Glauben aufgewachsen. Sein Talent als Pianist ist bereits früh offenkundig, mit 9 Jahren tritt er zum ersten Mal öffentlich auf, es folgen erste Werke mit 12 Jahren. Der wohlsituierte Hintergrund der eigenen Familie – es handelt sich um Kaufleute und Bankiers – erlaubt ihm diese künstlerische Freiheit. Und er tut das, was alle deutschen Romantiker tun: er reist und besucht Europa, darunter Schottland, das ihm mit seiner wundersamen Erscheinung besonders im Gedächtnis bleibt. Seine berühmte Hebriden-Ouvertüre und seine Schottische Sinfonie sind klangvolle Nachlässe dieser Inspiration, die bis heute das Publikum begeistern. Nach der Aufführung meint Johannes Brahms in schwermütigem Ton: »Alle meine Werke gäbe ich drum, wenn ich eine Ouvertüre wie die Hebriden von Mendelssohn hätte schreiben können.«

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Hier wird auch ganz deutlich, wo das Trennende zu Wagner und das Verbindende zu Beethoven liegt; letzterer fand in der Natur ebenso die Vollkommenheit wie die damaligen Romantiker, indes Wagner eher den Sagenstoffen zugeneigt war. Wenn Wagner die Loreley besingt, so ist Mendelssohn der Rhein wichtiger. Da sind sie, die beiden Seiten der Medaille. Und während Wagners Interesse für Italien sich in Grenzen hält, ist der junge Komponist ganz und gar von der Italienromantik gefangen, macht eine Reise nach Florenz auf seiner Grand Tour, und schafft die Italienische Sinfonie, einen Glanzpunkt des sinfonischen Schaffens überhaupt! Die Sehnsucht nach Italien, die ein prägendes Element der deutschen Seele ist, kommt hier stärker denn je zum Ausdruck – für Wagner spielt das Mittelalter seine glänzende Rolle, aber der Romzug, dieses Ritual, das die deutschen Kaiser über Jahrhunderte pflegten, hat für Wagner ebenso wenig Bedeutung wie die Bildungsreisen der Gelehrten.

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In seinen späten Jahren ist Mendelssohn-Bartholdy besonders die Pflege der Musik ein Anliegen. Er ist es, der Bach wieder aus den Schubladen hervorkramt, und nach Jahrzehnten des Vergessens wieder salonfähig macht. In Leipzig gründet er das erste deutsche Konservatorium. Er hält Kontakt zu den Größen seiner Zeit – so mit Liszt und Chopin. Alles in allem wird er aber als „Konservativer“ in der Szene beäugt. Seine Freunde sehen ihn daher in Kontinuität zu Beethoven und Mozart; andere halten ihn für einen unoriginellen Komponisten – so eben auch der als „Revolutionär“ geltende Wagner.

Dann, am 4. November 1847, stirbt Mendelssohn mit nur 38 Jahren in Leipzig. Nachdem er wenige Monate zuvor die Nachricht vom Tod seiner geliebten Schwester Fanny erhalten hatte, erlitt er zum ersten Mal einen Schlaganfall, kurze Zeit später einen weiteren. Was mag die Empfindsamkeit, jenes Kernelement der deutschen Romantik, besser repräsentieren, als dieser tragische Tod?

3 Kommentare

  1. Erfreulich das Bekenntnis zu Mendelssohn, das mich gleich nach der Heimkehr von Leipzig erreicht, wobei freilich die dort in der Thomaskirche gehörte Johannes-Passion unerreichbar bleibt, eigentlich das wahre bleibende Erbe des Luthertums, auch für Katholiken zu bejahen. Dass einige Wagner in Schutz nehmen, begreife ich, privat war er nicht ganz humorlos, aber seine Opern sind musikalisch letztlich überzeugender wie als anscheinendes Gesamtkunstwerk, das hat auch Nietzsche wohl richtig erkannt. Schön ist, dass man hier zu Mendelssohn steht und nicht etwa beim katholischen Antisemitismus noch eine Anleihe macht. Für mich noch interessant war der Philosoph Moses Mendelssohn.

  2. Wagner, humorlos? Meistersinger.

    Wagner, Romzug? Tannhäuser. Wenigstens anspielungsweise.

    Vielleicht mal mehr als nur die Ring-Tetralogie hören? 😉

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