Donnerstag, 28. November 2024

Das Konzil zu Calzedonia (1/2)

Die ikonoklastische Hypermoralisierung Deutschlands im Sommer 2015 (revisited) – Teil 1

Der Sommer 2015 wird in die Geschichte eingehen; ebenso wie der „summer of love 1967“ und das „Sommermärchen“ von 2006. Und so wie im blutigen Fanal des Rock-Konzerts von Altermont 1969 die Flower-Power-Träume von 67 wie Seifenblasen platzten und sich 2006 – passend zur UEFA-Euro – gerade als FIFA-Märchenstunde entpuppt, tut man gut daran, die Verheißungen und Konfliktlinien des Sommers 2015 aus der saisonal naherückenden Distanz von einem Jahr noch einmal in den Blick zu nehmen; wir werden noch länger mit ihnen zu tun haben. Be sure to wear some memories in your head… .

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Quelle: Caledonia Beachwear 2015

von Martina Rettul

2015 war ein Sommer unter mehr oder weniger offen erkennbaren eminent moral-theologischen Vorzeichen, die, teils banal, teils hochpolitisch, noch einmal zu dechiffrieren sind. Wir unterlassen an dieser Stelle Betrachtungen zur „heilsgeschichtlichen Mission der Kanzlerin“ (Christian Geyer, FAZ), zur willkommens-kulturellen Ebene (dazu an anderer Stelle mehr), sondern wenden uns vermeintlich Banalem zu, dem nichtsdestotrotz in nuce alles Wesentliche eingeschrieben ist.

Zu besichtigen ist in beiden Fällen die Hypermoralisierung der deutschen Gesellschaft auf der Zielgerade der Lutherdekade. Nicht von ungefähr: denn das Erbe der Reformation ist Moral; war es von Anfang an, obwohl sich Luther ja eigentlich aller Moral (der guten Werke) entledigen wollte. Man könnte auch sagen: „dumm gelaufen“.

Eine Bewegung, die die „Freiheit des Christenmenschen“ „allein im Glauben“ predigte, dann aber recht umstandslos u.a. auch ein kulturelles Massaker an liturgischen Bildern verübte und ein Verbot von Musik und Tanz in Calvins Genf auf die Zeitschiene setzte, sollte man heute nicht mit der schaumsprachigen Rede von der „Kirche der Freiheit“ durchkommen lassen, auch nicht mit den hehren „Anliegen“ und „guten Absichten“ der reformatorischen Trotzköpfe, sondern sie zum Nennwert nehmen: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, heißt es; an ihrer „öffentlichen Theologie“ (EKD), vulgo: ihrer Moralisierungskompetenz, wäre heute hinzuzufügen.

These: Nur das Dogma hat Ermöglichungs-Potential, nur Dogmatik setzt frei. Kein Dogmatiker ist Moralist und umgekehrt. Auch Nietzsche wußte das. Nur der Moralist verurteilt, der Dogmatiker nie (wenn er seinen grenzgängerisch-normativen Job kann). Ein Blick in das lesenswerte Buch von Christoph Möllers über Die Möglichkeit der Normen könnte das hier gemeinte vertiefen, wobei dann deutlich würde, daß die protestantische Rede von der „katholischen Doppelmoral“ intellektuell noch nie besonders tiefschürfend gewesen ist. „Denn nur da wo Normen gebrochen werden können, bewahren sie ihre Normativität. Und nur da, wo Normen operieren, können wir über das hinauskommen, was wir ohnehin sind.“ (Möllers S.456)

Da das protestantische Paradigma tief ins katholische Selbstverständnis eingedrungen ist, sind die hier angesprochenen Konfliktlinien natürlich nicht mehr entlang von Konfessionsgrenzen zu verorten sondern nurmehr an einer Mentalität, die entweder eine lateinisch zivilisierte ist oder eine im Kern differenzfeindliche – eine barbarische; ihr ist ihre gute Gesinnung alles.

Die vermeintlich banale Ebene: Die Calzedonia-Plakate hängen wieder. Andere auch. Wie jedes Jahr. Noch. Der deutsche Justizminister Heiko Maas wird ihnen wahrscheinlich bis 2017 von Amts wegen den anti-sexistischen, ikonoklastischen Garaus gemacht haben und sich u.a. auch damit als Exekutor der „öffentlichen Theologie“ der EKD erwiesen haben. Interessant daran: Heiko Maas 2016 ist der Widergänger des Psychiaters und Buchautors Manfred Lütz 2015. Maas: der neue – weitaus besser angezogene – Lütz.

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Weitere Informationen

Wir erinnern uns in einem theologisch-ästhetischen Rückblick auf den Sommer 2015 an das dogmatische Potential von Hotpants, Thigh-Gaps und Veggie-Würstchen und den hochsommerlichen, ikonodulen Triumph von Heidi Klum über den grillenden Bilderstürmer Manfred Lütz; an einen Sieg der ästhetisch-dogmatisierenden Hierarchie, der mit dem zeitgleichen Triumph der politisch-moralisierenden Obrigkeit – der Entgrenzungs-Agenda Angela Merkels 2015 – allerdings teuer bezahlt wird.

Vorab grundsätzlich: Was ist ein Modediktat, ein Must Have? Was sind Stilvorgaben, Essentials, Dresscodes, Key Pieces, oder auch der Bodymass-Index (BMI) eigentlich anderes als dogmatische Entscheidungen über Maßstäbe und Grenzen? Getroffen von Hohen Priestern und Priesterinnen des Metiers, die allesamt eine gleichsam apostolische Sorge tragen für den guten Geschmack, den festen Glauben an die saisonalen Farben und Schnitte und die ihr Leben weihen der verzehrenden Suche nach einer Ikonographie des schönen Scheins, der uns allen zur ästhetischen Orientierung dienen soll.

Welche andere Mentalität als eine zutiefst dogmatische – also katholische – sollte Verständnis aufbringen für diese Art der geistlichen Leitung? Fashion-Victims sind also „anonyme Katholiken“. Man sollte ruhig öfter bei Karl Rahner nachschlagen.

Alles Geschmackssache? Keinesfalls! Mode ist nur im protestantischen Kontext Geschmacksache, eine Frage der individuellen Gesinnung. Zumeist mit der textilen Maßgabe: praktisch, tragbar, schick. Auch gerne bei der Arbeit im Büro. Das katholische Kontrastprogramm hingegen lautet: unpraktisch, untragbar, unschicklich. Wenn´s sein muss auch gerne im Büro. Hier wäre Max Scheler hinzuzuziehen, der die Heiligung der Arbeit als den eigentlichen protestantischen Gottesdienst zu diskreditieren verstand und das katholische „gute Leben“ wesentlich als ein after-work-Geschehen avant la lettre zu beschwören wusste; ein Leben, das zu feiern ist, gerade weil es endlich ist.

Es liegen einfach Welten zwischen dem mündigen, auf Autonomie pochenden „hab ich alleine selber ausgesucht“, (wohl auch alleine an-gezogen) „und ich fühl mich wohl darin“ im Geiste der reformatorischen „soli“ und Luthers „pro me“ und der Nachfolge einer dogmatisierten Idee von Fleischwerdung, im Spannungsfeld von Verhüllung und Enthüllung, von Vergebung und Verführung: einem gerne-aus-gezogen-werden – durch und für andere.

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Sexistische Werbung? „So müsst Ihr nicht aussehen!“ Unbekannte beschmieren Calzedonia-Plakate in Köln

Sich in die Nachfolge eines Modediktates zu begeben bedeutet immer, Anteil nehmen an der saisonalen Objektivierung von Ideen, die nicht die eigenen sind, die sich aber anverwandeln lassen. Dies ist der katholische Glut-Kern einer jeden Mode: Raffinesse, Differenzierung, Ambivalenz und Tradition machen ein Angebot des Aufgehobenseins im überzeitlichen Strom des Schönen-Scheins, der zu feiern ist – mit Haltung und Stil. Es ist das „Geheimnis des Glaubens“ an überzogene Ideale, die verkörpert werden können. Ein katholisches Mode-Verständnis bedeutet, um dieses Überzogene zu wissen, es schön zu finden und die eigene, individuelle Abweichung damit augenzwinkernd in Einklang zu bringen. Was im Mode-Diskurs oft fehlt, ist dieses augenzwinkernd paradoxale, bei aller Ernsthaftigkeit immer auch distanzierte Verständnis. Nichtdistanz ist evangelisch. Mode geht im Grunde nur katholisch. Ansonsten droht eine Moral der Kleiderordnung, ein Terror der Authentizität mit dem Zwang zu fair gehandelte Klamotten, Sackleinen und Übergrößen, gerne auch zu Outdoor-Textilien. Gott, bewahre!

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Fortsetzung folgt.

  1. Ich verstehe die Diskussion überhaupt nicht – Es sind (egal in welcher Größe) ästhetische Plakate, aber überhaupt nicht sexualisiert.

    Im Gegenteil, eine solche (normale) Frau bestätigt junge Frauen darin sich so anzunehmen wie sie sind – und sich nicht bis zur Kardashian operieren zu lassen.

  2. Die Parallelisierung von Modedesignern mit anderen Hohenpriestern und Lehramtsvertretern und deren Sorge um „den guten Geschmack“ scheint doch etwas sehr bemüht – und die Niedermache protestantischer Geschmacksindividualisten noch dazu.
    Warum ist das überhaupt wichtig?
    Und wieso muss man eine halbnackte, abgemagerte junge Frau in Wolkenkratzergröße nun unbedingt katholisch rechtfertigen?
    Ist das nicht die Rückseite traditionalistischen Abendlandtrachtlertums?

    Es fängt schon damit an, dass „Designer“ heute ein Totschläger ist, schlimmer als es die Inquisition je hätte sein können. Und vor allem hat das Lehramt nicht jedes Vierteljahr den Glauben neu erfunden und radikal all jene ausgegrenzt, die das eben noch „Geschmackvolle“ äh Geglaubte und Dogmatisierte einfach unsinnigerweise immer noch, selbst nach 10 Jahren noch geschmackvoll finden oder glauben und partout immer noch anziehen wollen, obwohl „man das heute nicht mehr trägt“.

    Das einzige, was ich mit dogmatischen Entscheidungen, übertragen auf Klamotten assoziiere, ist zeitlose Mode.
    Und ja: über Geschmack dürfen auch Katholiken streiten, denn unsere Kirche ist weit und groß und nicht eng und spießig. Im Reich Gottes sind viele Wohnungen, auch Klamottenwohnungen. Nicht an jeden Körper passt jede Mode – auch das eine Erfahrung vieler verzweifelter Menschen, die für das meiste, was uns da aufgezwungen wird, schlicht zu fett sind. Jedenfalls, wenn man der „Sorge“ der „Design-Geistliche“ folgen will.

    Der „neue Mensch“ übrigens, um mal wirklich beim Glauben anzukommen, ist Christus. Und ihn sollen wir „anziehen“, sagt Paulus. Dieses neue Gewand ist ein neuer Geist.
    Und dass wir auf Äußeres eben nicht dogmatisch wert legen sollen, das ist uns mehrfach gesagt, von Petrus und Paulus, ausdrücklich, ausdrücklich auch gerade den Frauen.

    Die „Lilien auf dem Feld“, sagte der Herr, sind besser gekleidet und vor allem schöner als das „Design Salomos“.
    Und wir?
    Sollen uns nicht sorgen drum, was wir anziehen – auch das ein Herrenwort.
    Und warum?
    Der Vater im Himmel zieht uns an, sagte Jesus.

    Und so wird ein wirklich geistlicher Schuh draus!

  3. Nun, die Verfasserin scheint einen anderen Begriff von „Moral“ zu haben als der allgemein übliche oder sinnvolle.

    Moral ist die Lehre von den Tugenden und Sünden bzw. der Teil des Katechismus, dem traditionell die Zehn Gebote voranstehen, und in diesem Sinne ist zu sagen:

    Natürlich darf es im Leben des Christen auch nicht den geringsten Quadratmillimeter einer moralfreien Zone geben.

    Nur: tatsächliche Moralvorschriften oder solche, die es nicht sind, das ist halt eben die Frage.

    >>Die Calzedonia-Plakate hängen wieder.

    Diese scheinen mir die auch lässig gehandhabten Regeln öffentlicher Schicklichkeit zu überschreiten („scheinen“ heißt: ich habe hier und jetzt keine Lust, mich an einer ausführlichen dogmatischen Begründung dazu zu versuchen^^). Wenn die dann verboten werden, soll mir das theoretisch recht sein*, und wenn ausgerechnet der Feminismus es fertigbringt, den Wunsch von Dogmatikern katholischer Sittlichkeit zu gewähren, dann mag ein Schmunzeln erlaubt sein. Werbung für Unterwäsche und Bademode muß im öffentlichen Raum zumindest in dieser Größe nicht sein (und zwar auch dann nicht, wenn zufällig ein paar Moslems dasselbe glauben).

    [*] Theoretisch recht sein heißt: es wäre mir recht, wenn ich nicht Angst hätte, daß die Vorschriften, wenn sie in dieser unserer heutigen Situation erlassen würden, dann weiter gehen, als sie gehen müßten, daß also das Kind mit dem Bade ausgeschüttet würde, daß es dann besser wäre, lieber in den sauren Apfel zu beißen und zu sagen: in dieser unserer Situation ist es besser, ich toleriere diese Plakate, als mich um ihr Verbot zu bemühen…

    >>Was ist ein Modediktat, ein Must Have? Was sind Stilvorgaben, Essentials, Dresscodes, Key Pieces, oder auch der Bodymass-Index (BMI) eigentlich anderes als dogmatische Entscheidungen über Maßstäbe und Grenzen? Getroffen von Hohen Priestern und Priesterinnen des Metiers, die allesamt eine gleichsam apostolische Sorge tragen für den guten Geschmack, den festen Glauben an die saisonalen Farben und Schnitte und die ihr Leben weihen der verzehrenden Suche nach einer Ikonographie des schönen Scheins, der uns allen zur ästhetischen Orientierung dienen soll.

    Im Sinne dieses Artikels soll „dogmatisch“ ja wohl ein Lob sein… aber, das wäre vielleicht zu loben, wenn es darum ginge, welche Kleidung man sich zulegt. Aber schon der Zwang, dies andauernd neu tun zu müssen, weil Dinge außer Mode kommen, ist problematisch, und der BMI schließlich heißt nichts weiter als „ein paar Leute wollen wir gar nicht in unserer Gesellschaft drin haben“. Zumal der BMI, speziell wenn Leichtgewichte Normalgewicht und Normalgewichte Übergewicht heißen, eigentlich im Sinne der Differenzierung des Artikels viel mehr unter „Moralismus“ als unter „Dogmatik“ fällt.

    >>Das katholische Kontrastprogramm hingegen lautet: unpraktisch, untragbar, unschicklich.

    Allenfalls ersteres. Und auch das Praktische hat seinen legitimen Platz in der katholischen Welt – wie alles, außer der Sünde.

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