Freitag, 27. Dezember 2024

Die Erbsündenlehre in der Ära des II. Vatikanums ist nicht immer einwandfrei

Der Cathwalk veröffentlicht eine vierteilige Reihe von Heinz-Lothar Barth über die Erbsünde. Jede Woche wird ein Teil veröffentlicht. Teil 4/4:

Fest steht, daß schon die Lehre des II. Vatikanums zur Ursünde/Erbsünde vom modernen Geist, zumindest in Ansätzen, angekränkelt ist. Es dürfte wohl kaum einem Zufall entspringen, daß gerade in der Pastoralkonstitution  „Gaudium et spes“ Nr. 22 die klassische Terminologie der katholischen Kirche nicht korrekt benutzt worden ist. Dort heißt es, daß „die Gott­ebenbild­lich­keit (wörtlicher: die Ähnlichkeit mit Gott, Verf.)… von der ersten Sünde her ver­unstaltet war“ („simi­litudinem divinam, inde a primo peccato deforma­tam“, 2LThK 14,352 = DH 4322 = Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien 3/2002, 1081). Im Kontext lautet der gesamte Satz, dessen Subjekt Christus ist: „Qui est ‚imago Dei invisibilis’ (Col. 1,15), Ipse est homo perfectus, qui Adae filiis similitudinem divinam, inde a primo peccato deformatam, restituit.» (GS 22,2) Hier die deutsche Übersetzung: „Der ‚das Bild des unsichtbaren Gottes’ (Kol 1,15) ist, ist zugleich der vollkommene Mensch, der den Söhnen Adams die Gottebenbildlichkeit wiedergab, die von der ersten Sünde her verunstaltet war.“ Es ist in der Tat wohl kaum ein Zufall, daß sich gerade in GS 22 solch eine dogmatische Schwäche eingenistet hat. Nach der Einschätzung Papst Johannes Pauls II. ist das  Kapitel 22 von „Gaudium et spes“ nämlich der „theologische Angelpunkt des ganzen Konzils“, auf den er sich auch selbst immer wieder bezogen hat. Dies berichtet George Weigel in: Zeuge der Hoffnung: Johannes Paul II. – Eine Biographie, dt. Ausgabe Paderborn 2002, 176. Ich selbst habe zu GS 22, eine zentrale Stelle für Ökumenismus und interreligiösen Dialog, ausführlich Stellung genommen in: Keine Einheit ohne Wahrheit! Teil II: Die Relativierung christlichen Glaubens durch interreligiöse Aktivitäten, Stuttgart 2011, 191-207.

Gaudium et spes 22 verfälscht die klassische Terminologie

Nach uraltem Sprachgebrauch war, wie wir früher schon gesehen haben, die „Gottähnlichkeit“, die „similitudo Dei“, in Wahrheit aber nicht „verunstaltet“ („de­formata“), sondern vollkommen „zerstört“ („dele­ta“): Der Mensch, der ganz aus der übernatürlichen Ordnung herausgefallen war, ist existentiell vom Sühne- und Erlösungsopfer Christi abhängig geworden, dessen Frucht ihm in der christlichen Taufe zugewendet wird. Oder wie St. Thomas von Aquin, was wir schon in einem anderen Faszikel unserer Serie zitiert hatten, mit Blick auf eine Formulierung Bedas die Wirkung des Sündenfalls auf den Menschen ausdrückte: „exspoliatur gratuitis et vulneratur in naturalibus“ – „er verliert die Gnadengaben und wird im Bereich des Natürlichen verwundet“. (S. th. I-II q. 85 a. 1 SC). Geblieben war dem Menschen eben lediglich, wie Thomas andeutet, eine natür­liche Ähnlichkeit mit Gott aufgrund seiner Geistseele, die „imago Dei“ („Abbild Gottes“), diese freilich auch nur im ver­wundeten Zustand („vulne­rata“).

Das ist durchaus keine protestantische Position, wie mir mehrfach in Gesprächen vorgehalten wurde, sondern die genuin katholische. Die protestantische Sichtweise hat beispielsweise der dänische Propst Søren Ruager in einem sonst sehr wertvollen Aufsatz vorgetragen; dabei differenzierte er gar nicht zwischen den beiden Begriffen imago und similitudo, die möglicherweise im hebräischen Original auch nicht scharf voneinander zu unterscheiden sind, wie wir früher schon ausgeführt hatten: „Der Mensch war im und zum Bild Gottes gemacht (1 Mo 1,27), aber dieses Bild wurde durch die Sünde zerstört, die schon durch den Ungehorsam Adams in die Welt gekommen war (Röm 5,12 ff.).“[1] Folglich ist auch die gesamte Natur des Menschen völlig korrumpiert.

Kardinal Ratzingers unzulängliche Rechtfertigung

Joseph Ratzinger erwähnte in sei­nem Kom­mentar zu Gaudium et spes 22 die Abweichung von der Tradition, ver­harmloste sie aber, indem er sie lediglich als eine „Ausdrucksweise, die man…von der Schulsprache her als ungenau bezeichnen muß“[2] einstufte. In Wahrheit wird durch diese Änderung der Be­griff­lichkeit, die ja wohl kaum einer Nachläs­sigkeit ihr Ent­stehen ver­dankt, sondern bewußt in einen Kon­text eingeführt ist, der von Rahners und de Lubacs Geist nicht ganz unbeeinflußt ist[3], die radikale Erlösungsbedürftigkeit des Menschen abgemildert (wenn sie im Kontext auch noch erwähnt ist), man unterscheidet nicht mehr so klar wie nötig zwischen Natur und Übernatur, und folglich werden Allerlö­sungstheo­rien aller Schat­tierungen begünstigt. Gerade auf diese Zusammen­hänge hat der Münsteraner Theologe und Missionswissenschaftler Johannes Dörmann immer wieder aufmerksam gemacht.[4]

Ist dem erbsündlich belasteten Menschen eine „halbe Gnade“ geblieben?

Man fragt sich natürlich mit Fug und Recht, wie eine solche Ausdrucksweise von der „verunstalteten (deformierten) Gottähnlichkeit“ des Menschen, wenn sie nach traditionellem Verständnis auf das Gnadenleben bezogen ist, vor dem Tribunal der Vernunft Bestand haben soll: Ist in den Menschen von Natur aus noch eine „deformierte“, sozusagen eine „halbe Gnade“ (quantitativ oder qualitativ zu verstehen) verblieben? Braucht Gott ihnen demnach nicht ganz neu seine Liebe aus dem Gnadenstrom der Erlösung durch Jesus Christus zu schenken, sondern muß sie gleichsam nur partiell wieder in seine Gnade aufnehmen? Der italienische Gelehrte und Kritiker moderner Fehlentwicklungen in der katholischen Theologie Paolo Pasqualucci hat an dieser Aussage berechtigte Kritik geübt; wir geben sie in eigener deutscher Übersetzung wieder: „Es scheint sinnlos zu sein, nahezulegen, daß sie (die Gnade) sich in uns in ‚entstellter’ Form erhalten hat. Was soll das bedeuten? Daß in jedem Menschen seinsmäßig die Gnade zur Hälfte verblieben ist? Oder noch schlimmer, eine ‚entstellte’ Gnade?  Schon die Vorstellung einer ‚entstellten’ Ähnlichkeit mit Gott erscheint unstimmig und sinnlos.“[5] Oder will man etwa, so füge ich an, die „similitudo Dei“ gegen eine uralte Tradition überhaupt nicht mehr mit dem Gnadenleben des Menschen verbinden? Worauf bezieht sie sich aber dann?     

Die korrekte Terminologie des KKK

Daß wir mit unserer Kritik nicht zu weit gehen, zeigt ein Blick in den „Katechismus der Katholischen Kirche“. Dort ist nämlich die überlieferte Lehre der Kirche auf einmal wieder richtig dargestellt, und zwar eben auch mit der traditionellen Terminologie  – ein interessantes Faktum, das bisher kaum beachtet worden zu sein scheint! Es zeigt uns übrigens, daß eine Kritik an einzelnen Texten des II. Vatikanums richtig und in bestimmten Fällen sogar unbedingt nötig sein kann! In KKK 705 heißt es: „Obwohl durch die Sünde und den Tod verunstaltet, bleibt der Mensch ‚nach dem Bilde Gottes’, nach dem Bilde des Sohnes geschaffen, doch er hat ‚die Herrlichkeit Gottes verloren’ (Röm 3,23), ist der ‚Ähnlichkeit’ mit ihm beraubt.“ Zur Kontrolle sei hier auch die zwar später entstandene, letztlich aber verbindliche lateinische Version angeführt: „Homo, a peccato et a morte deformatus, manet ‚ad imaginem Dei’, ad imaginem Filii[6], sed ‚eget gloria Dei’, ‚similitudine’ privatus.“ Durch die Anführungszeichen bei „ad imaginem Dei“ und „similitudine“ wird, ebenso wie in der deutschen Fassung, kundgetan, daß es sich hier um Zitate handelt, nämlich aus Gen 1, 26.      

Wichtige Literatur zu den Schwächen des II. Vatikanums

Zu den Schwächen und Fehlern des II. Vatikanums haben sich in jüngerer Zeit angesehene Autoren in herausragender Weise geäußert: Florian Kolfhaus, Pastorale Lehrverkündigung – Grundmotiv des Zweiten Vatikanischen Konzils. Untersuchungen zu „Unitatis Redintegratio“, „Dignitatis Humanae“ und „Nostra Aetate“ (Berlin 2010)

Brunero Gherardini, Concilio Ecumenico Vaticano II – Un discorso da fare (Casa Mariana Editrice 2009) – Deutsche Version: Das Zweite Vatikanische Konzil – Ein ausstehender Diskurs, übersetzt von Claudia Barthold, Mülheim/Mosel 2010.

Roberto de Mattei, Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, dt. Ausgabe Edition Kirchliche Umschau, Ruppichteroth 2011

Papst Johannes Paul II. verschärfte den falschen Ansatz des II. Vatikanums 

Papst Johannes Paul II. ging nun noch einen erheblichen Schritt weiter. In seiner Enzyklika „Mulieris dignitatem“ (Nr. 6) verkündete er: „Dieses Abbild Gottes und die Ähnlich­keit mit ihm, die zum Wesen des Menschen gehört, wird von Mann und Frau, als Gatten und Eltern, ihrer Nachkommen­schaft weitergegeben.“ („Haec essentialis homini imago et similitudo Dei, a viro et muliere, uti coniugibus et genitoribus, eorum posteritati proditur“, AAS 80/1988, 1662).  Wie kann es sich dann aber bei der „Ähnlichkeit mit Gott“ noch um eine übernatürliche Gnadengabe handeln? Wie der vom Papst vorgetragene Satz mit der durch Ana­them-Androhung geschützten Lehre des Trienter Konzils zu verein­baren sein soll, nach der „die Sünde Adams durch Fortpflanzung über­tragen wird“ („Adae peccatum…propaga­tione…transfusum“, DH 1513), bedürfte einer Klärung.

         Bereits Jahre zuvor hatte Johannes Paul II. in „Redemptor hominis“ (Nr. 13) ausdrücklich sogar die „völlige Unversehrtheit“ beider menschlicher Komponenten betont („integra permanet imago et similitudo Dei ipsius“)! Es erhebt sich die Frage, wie sich diese Aussage zum 1. Kanon der 2. Synode von Orange (529) fügt, wo verurteilt wird, „wer sagt, der Mensch sei durch die Beleidigung der Übertretung Adams nicht ganz, d. h. dem Leib und der Seele nach, ‚zum Schlechte­ren gewandelt’ (nach Augustinus, De nuptiis et concu­piscentia 2,34,57), sondern glaubt, die Freiheit der Seele habe unversehrt fortbestan­den…“ (DH 371).

Ohne saubere Lehre von der Erbsünde bricht alles zusammen!

Solche dogmatischen Fehler sollten nicht geringgeschätzt werden. Sie gefährden eine saubere Sichtweise auf die katholische Lehre von der Ur- bzw. Erbsünde. Papst Benedikt XVI. betonte selbst vor einigen Jahren: „In der Tat, wenn man nicht mehr versteht, daß sich der Mensch in einem Zustand der (nicht nur ökonomischen und sozialen und folglich in einer mit seinen eigenen Anstrengungen allein nicht lösbaren) Entfremdung befindet, versteht man nicht mehr die Notwendigkeit des Erlösers Christus. Die ganze Struktur des Glaubens ist somit bedroht. Die Unfähigkeit, die ‚Erbsünde’ zu verstehen und verständlich zu machen, ist wirklich eines der schwerwiegendsten Probleme der gegenwärtigen Theologie und Pastoral.“[7] Insofern war es m. E. sinnvoll, einmal einem größeren Leserpublikum solche Probleme vorzustellen. Weitere und noch tiefere Ausführungen zur Erbsünde, ihrer modernen Entstellung und der dadurch begünstigten Allerlösungslehre, die man für Ökumenismus und interreligiösen Dialog zu benötigen glaubt, kann man in schon erwähntem, folgendem Büchlein nachlesen:

Heinz-Lothar Barth, Die Erbsünde – Traditionelle und moderne Lehre, editiones scholasticae, Neunkirchen-Seelscheid 2022 (72 Seiten).

Das Buch zum Artikel: „Die Erbsünde – Traditionelle und moderne Lehre“ (Heinz-Lothar Barth)


[1] Søren Ruager, Das Ebenbild des unsichtbaren Gottes. Das Bild Gottes nach der Botschaft der Bibel, in: Diakrisis 30,2/2009, 77.

[2] LThK (2. Aufl.) 14,350

[3] Siehe meinen Beitrag „Rahners Theorie vom anonymen Christentum, ‚Gaudium et spes’ 22 des II. Vatikanums und die Lehre Papst Johannes Pauls II., in: David Berger (Hrsg.), Karl Rahner – Kritische Annäherungen, Quaestiones non disputatae, Siegburg 2004, 383–449.

[4] Z. B. in: Der theologische Weg Johannes Pauls II. zum Weltgebetstag der Religionen in Assisi, Bd. I, Senden/Westf. 1990, 81-85.

[5] Das italienische Original lautet: „Appare privo di senso insinuare che essa (la grazia) si è mantenuta in modo ‘deformato’ in noi. Che significa? Che in ogni uomo è rimasta ontologicamente una grazia a metà? O peggio ancora, una grazia ‘deforme’? L’immagine stessa di una ‘somiglianza deforme’ con Dio appare incoerente e assurda.” (L’ambigua cristologia della redenzione universale – Analisi di Gaudium et Spes 22, Spadarolo 2009, 50-55, Zitat 55) 

[6] Nach der deutschen Fassung könnte man hier das Partizip „creatus“ erwarten, aber z.B. auch die französische Ausgabe des KKK drückt sich wie die lateinische aus.

[7] Joseph Kardinal Ratzinger, Zur Lage des Glaubens – Ein Gespräch mit Vittorio Messori, deutsche Ausgabe München-Zürich-Wien 1985, 79 f.

Teil 3:

Teil 2:

Teil 1:

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