Von G. K. Chesterton, True Temperance Quarterly 5/1933
Eine Prohibitionskritik kann heute nicht mehr Attacke sein. Nur noch Autopsie. Die Prohibition ist an ihrer kriechenden Fäulnis zu Tode gekommen, an den verdorbenen Säften, die ihren eigenen Körper verseuchten; nicht an irgendeinem adäquaten Angriff von außen. Wenn es jemals etwas gegeben hat, das scheiterte, weil es versucht wurde – das war sie. Sie fand ihr Verhängnis, weil sie eine Chance hatte. Sie war ein praktischer Mißerfolg, weil sie ein praktische Tatsache gewesen war. Sie kam gemäß dem natürlichen Lauf der Dinge zu ihrem unnatürlichen Ende.
Die Prohibition ist hauptsächlich gestorben, weil sie von den Prohibitionisten verlassen wurde; nicht einmal, weil sie immer verlacht worden war von vernünftigen Menschen und solchen mit einem Sinn für Geschichte und Zivilisiation. Wohl wahr: noch [1933] gibt es gewisse gesetzliche Verwicklungen, verdrillt und erneut verdrallert von den unvorstellbaren Fanatikern auf dem fieberhaften Höhepunkt ihrer Macht. Aber kaum jemand würde heute noch vorgeben, daß die Prohibition moralisch tragbar oder auch nur ertragbar sei: es geht nur noch um den Unterschied zwischen einem formell abgeschafften Gesetz und einem toten Buchstaben.
Da die Autopsie ruhig ausführlicher und vollständiger als die Attacke sein darf, würde ich gern ganz besonders herausstellen, daß das Gift, das in den Überresten noch da ist, das Gift, an dem das Opfer zweifellos starb, tatsächlich ein Gift von einer bestimmten spirituellen Art ist – der schlimmsten Feindin des Lebens.
Dieses Gift ist die SÜNDE.
Und die Prohibition ist untergegangen, weil ihr Geist sündhaft ist und die Eigenschaften aller Sünden hat, die die Seele zerstören. Wir zollen den Prohibitionisten ein viel zu großes Kompliment, wenn wir sie hyper-rechtschaffen oder selbstgerecht oder gar Pharisäer nennen. Das Übel lag nämlich gar nicht in irgendeiner Übertreibung ethischen Ernstes; also wie beim Puritaner alten Schlags, der vielleicht wirklich ein bißchen unausgewogen in seiner Abscheu vor der Hurerei und dem schamlosen Beruf Prostitution war, oder wie bei einer feinfühligen Person, die von dem bloßen Schock, dem Wahnsinn irgendeiner moralischen Perversion zu begegnen, selbst ein wenig wahnsinnig wird. Das Übel an unserer Sache hier aber geht viel tiefer. Es war keine Verklemmung des moralischen Gefühls, sondern etwas ganz anderes.
Das gemeine Gewissen geistig gesunder Leute nenne ich, und nennen andere, weiterhin die Stimme Gottes; die Stimme des Menschen ist es auf jeden Fall. Es ist die gesunde Antwort des allgemeinen menschlichen Geistes auf gewisse Ideen, und in ihren überlegten und bewußten Entscheidungen sind die Unterschiede gar nicht so groß; natürlich spielen besondere Gefahren, besondere momentane Pflichten und so weiter eine Rolle. Man nehme eine normale Person, ein nettes Kind, ein halbwegs gebildeten Mann, einen Menschen, der nicht gerade zur Gänze die menschliche Natur verfehlt – und man wird sehen: so jemand weiß, daß bestimmte Entscheidungen ungerecht, bestimmte Handlungen grausam, bestimmte Risiken alltäglich, gewisse Dinge die eigenen Angelegenheiten eines Mitmenschen sind, und so weiter.
Nur wenn man sein Gewissen pervertiert, nur wenn man seinen Geist verbiegt, kann man ihm einreden, daß das Biertrinken auf demselben Niveau steht wie Mord oder Betrug.
Und wenn man das einmal geschafft hat, hat man sein moralisches Gefühl zerstört. Es ist nicht länger etwas Spontanes, Geistliches; es ist nicht länger etwas Natürliches, das das Böse am Geruch erkennt.
Es kann nur noch eine tote, verzerrte Lektion wiederholen wie etwas von einem Hypnotiseur Eingetrichtertes.
Und dieser Hypnotiseur ist kein Moralist.
Er ist, im präzisen Sinne des Wortes, ein Immoralist. Er verdirbt das Gewissen der Jugend.
Auf diesen sehr praktischen psychologischen Punkt hat man viel zu wenig Aufmerksamkeit gelegt. Man demoliert das Tribunal der Jugend, wenn man es besticht oder nötigt, den Unschuldigen schuldig zu sprechen, gerade ebenso wie wenn man es auf gleiche Weise dazu antreibt, den Schuldigen freizusprechen.
Und wie mit einem unschuldigen Menschen, so mit einer unschuldigen Handlungsweise: Man muß jede Unschuld zerstören, um irgendjemanden dazu zu bringen, eine unschuldige Handlungsweise zu verabscheuen.
Hat man es einmal geschafft, ein nettes, normales Kind zu überzeugen, daß es böse ist, seinem armen alten Vater ein Glas Bier zu bringen, dann hat man seinen Geist so sehr irregemacht, daß es am Ende vielleicht sagen kann, es sei nicht böse, in das Bier Blausäure hineinzutun.
Der Effekt, wenn man derlei tut, ist, daß sich die Moralität in ihrer Gesamtheit lockern wird – das ist aus logischer, mathematischer, intellektueller Sicht unausweichlich. Es ist auch tatsächlich der Fall; und man kann auf den tatsächlichen Zustand des modernen Amerika [1933] zeigen, um es zu beweisen.
Man beginne mit einer Häresie in Moralfragen – gleichgültig ob ein Verbot oder eine Erlaubnis – und das Ende ist immer die schlimmste und wildeste Zügellosigkeit, die auf die weitreichendste Erlaubnis hätte folgen können.
Und wenn jemand diese psychologische Tatsache, die auch eine theologische Wahrheit ist, bezweifelt, dann möge er den brüllenden Alptraum, die Hölle aus Irrsinn und Anarchie erklären, die dem Prohibitionsgesetz tatsächlich auf dem Fuße gefolgt ist.
Übersetzt von der Cathwalk-Redaktion.
Originaltext: THE SIN OF PROHIBITION
„Today a criticism of Prohibition cannot be an attack; it can only be an autopsy. … Prohibition has fallen down dead of its own crawling corruption; of the foul humours that infected its own body; and not by any adequate attack from without. It was, if ever there was one, a thing that failed because it had been tried; that found its doom because it had its chance; that was a practical failure because it was a practical fact; that was ruined, not by being frustrated but by being fulfilled; and came to its unnatural end because it had run its natural course.
Prohibition died because it was deserted by Prohibitionists; even more than because it was always derided by sensible men and by men with a sense of history and civilization. It is true that there are still various legal entanglements, twisted and re-twisted by the unthinkable fanatics at the feverish moment of their power; but hardly anybody pretends that Prohibition is morally tenable or tolerable today, and indeed it is only a question of whether it is a repealed law or a dead letter. And as the autopsy may well be more elaborate and complete than the attack, I should like to point out especially that the poison that is present in the remains, the poison of which the victim undoubtedly died, is in fact a poison of a certain spiritual sort which is the worst enemy of life.
That poison is sin. And Prohibition perished because the spirit within it is sinful and has the quality of all the sins that destroy the soul. We pay the Prohibitionists far too high a compliment when we call them over-righteous or self-righteous or even Pharisaical. The evil was not really in any exaggeration of ethical seriousness; in the sense, for instance, in which the old Puritan might really be rather unbalanced in his horror at harlotry and the brazen profession of prostitution; or a sensitive person might go a little mad from the mere shock of encountering some madness of moral perversion. The evil of the thing lay much deeper, because it was not a narrowing of the moral sense; it was a violent dislocation and uprooting of the moral sense. The common conscience of sane people is a thing which I and others continue to call the voice of God; but anyhow it is the voice of Man.
It is the healthy response of the universal human mind to certain ideas and it does not really differ very widely in its deliberate and conscious decisions; though of course it is modified by particular perils, particular duties of the moment, and the rest. Now if you take a normal person, a nice child, a reasonably trained man, a human being not falling short of the fulness of human nature, you will find that such a person knows that certain decisions are unjust, certain actions cruel, certain risks ordinary, certain matters a man’s own business, and so on. Only by perverting his conscience, only by making his mind crooked, can you induce him to believe that drinking beer is some thing like assassination or betrayal. And by the time that you have succeeded, you have ruined his moral sense. It is no longer a spontaneous spiritual thing; it is no longer a natural thing that can smell evil; it is only capable of repeating a dead, distorted lesson like something imposed by a mesmerist. That mesmerist is not a moralist. He is, in the most emphatic sense, an immoralist. He corrupts the conscience of the young.
Far too little attention has been paid to this point of very practical psychology. You wreck the tribunal of truth when you bribe or bully it into pronouncing the innocent guilty, just as you do when you similarly induce it to pronounce the guilty innocent. As it is with an innocent man, so it is with an innocent practice. You have to destroy all innocence to make anyone detest an innocent practice. By the time that you have persuaded a nice and normal child that it is wicked to fetch his poor old father a glass of ale, you have so bewildered the mind that it may end by saying it is not wicked to put prussic acid in the ale. The logical, mathematical, intellectually inevitable effect of doing this is a general loosening of all morality.
It is also the actual effect; and there is the actual state of modern America to prove it. Begin with a heresy in morals, whether it be a negative or a permission, and it will ‘bid in the worst and wildest licence that could follow on the loosest permission. And if anyone doubts this psychological fact, which is also a theological truth, then let him explain the howling nightmare and hell of nonsense and anarchy that has actually followed in the track of the Prohibition Law.“