Samstag, 23. November 2024

Ideengeschichte: Tradition und Moderne

Aux armes, citoyens, zu den Waffen, Bürger“ – wie jeder große Bruch der Weltgeschichte, mit Ausnahme der Geburt Christi, begann aus dieser mit Krieg und Eroberung. Napoleon eroberte im Revolutionsjubel Europa und brachte eine neue Zeit. Das Alte Europa war Geschichte, das Heilige Römische Reich: besiegt. Der Papst: gefangen. Der Kontinent lag in den Geburtswehen einer neuen Epoche: der Moderne. Die Ideen der Aufklärung, einst Phantastereien von Querdenken und Philosophen, bestimmten nun die Politik. Die Stände waren abgeschafft, die Kirche enteignet, die Tradition gebannt.

Mit der Moderne, die durch die Französischen Revolution politisch durchbrach, änderte sich das Verhältnis von Staat, bzw. Gesellschaft und Kirche grundlegend. Die Moderne ist ein Epochenbegriff der späteren Neuzeit. Kennzeichnend für diese Epoche ist die Bewertung des Gegenwärtigen als überlegen gegenüber dem Vergangenen. Mit der Moderne werden Aufklärungstradition, die Erklärung der Menschenrechte und die Säkularisation verbunden. Soziologisch bedeutet Moderne die Auflösung traditioneller Bindungen und hierarchischer Strukturen und ihre Ersetzung durch Formen einer individuellen Lebensführung. „Jeder Schritt der Moderne greift als schöpferische Zerstörung in bestehende, bislang Sicherheit verbürgende Traditionen ein“ (Richard Münch, RGG). Im Bereich der Religion geht mit Moderne nicht bloß die Säkularisierung, sondern auch die Individualisierung von Religion einher. Religion ist in der Moderne vor allem eine persönliche Sinnstiftung, eine Motivationsgrundlage, weniger oder gar nicht mehr die objektive Wahrheit, der man sich unterzuordnen hat.

Das „politische Bewußtsein und die normsetzenden Prinzipien des Mittelalters, [die getragen] waren vom Glauben an die Offenbarung Gottes, seiner natürlichen Schöpfung und seiner Herrschaft in der Geschichte“ zerbrachen in der Moderne. (Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht). Damit kam ein starker voluntaristischer oder sogar nihilistischer Zug ins Denken. Denn von nun an muss der Mensch die Bedeutung, denn Sinn, die Geschichte selbst „machen“. Das Leben wird aufs Diesseits begrenzt.

Die französische Revolution verbreitete durch die Aufklärung neue säkulare Legitimations- und Ordnungsideen in weitere europäische Länder, wodurch die Religion ihre bisherige Stellung einbüßte. 1789 begann eine Zäsur, eine neue Epoche der Weltgeschichte.

Die Grundlage der Moderne ist nicht Gott, sondern der Mensch mit seinen Bedürfnissen, Rechten und Verlangen. Es geht nicht mehr um Sünde und Erlösung, nicht mehr um das ewige Leben, sondern um „Selbstentfaltung“. Es geht darum, dass der Mensch seinen Sinn und seine Wahrheit erst finden müsse. Die stärkste Opposition dagegen war die katholische Kirche, die nicht mit Bedürfnissen, sondern mit der Recht der Wahrheit argumentierte. Die katholische Kirche ist die Instanz, welche die Tradition gegen alle politischen Brüche verteidigt hat.

Theologische Absicherung vor den als bedrohlich empfundenen Veränderungen fand das Lehramt in der Rückbesinnung auf die Scholastik. Die Haltung ist ausdrücklich verteidigend. Die Scholastik galt als sichere „Zitadelle gegenüber der theologisch unmöglich erscheinenden Gegenwart“ (Bernhard Welte, Auf der Spur des Ewigen).

Die ganze Bewegung der Revolution ist von der Kirche prinzipiell nicht mitgetragen wurden, da weder der Sturz der Monarchie, noch die Menschenrechtsauffassung zu traditionellen Vorstellungen passen. Menschenrechte sind Rechte von Personen gegenüber dem Staat, die sich nur dann formulieren lassen, wenn man die Wende zur Neuzeit politisch vollzieht. In der Kirche herrschte zu dieser Zeit ein aristotelisch-thomistisches Denken, das die neuzeitliche Wende nicht teilte.

„Die traditionelle katholische Lehre, bis hin zur sogenannten Toleranzansprache Pius XII. von 1953, hat die Anerkennung der Religionsfreiheit oder, was auf dasselbe hinausliefe, der Toleranz als Prinzip im Ergebnis immer abgelehnt. Sie geht dabei von dem Primat der Wahrheit gegenüber der Freiheit aus und von der These, dass der Irrtum an sich kein Recht hat gegenüber der Wahrheit. Nur besondere Gründe – „graves causae“ – im Hinblick auf das Gemeinwohl können es gestatten, daß dem Irrtum gleichwohl Existenz zuerkannt werde, dies aber niemals de jure, als Prinzip, sondern immer nur de facto, als Hinnahme eines Übels.“ (Wolfgang Böckenförde, Wolfgang, Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung).

Die katholische Kirche ist nach ihrem Selbstverständnis alleinseligmachend, da sie von Jesus Christus „zur Fortsetzung u. Vollendung seines Erlösungswerkes allein mit der unfehlbaren u. fortwährenden Vermittlung seiner Heilswahrheit u. –gnade betraut worden ist.“ (Walz, Johann Baptist, Alleinseligmachend, in: LthK 1 (1930), Sp. 276-278). Eine Mitgliedschaft in ihr ist demnach heilsnotwendig. Wenngleich eine unüberwindliche Unkenntnis nicht vom Heil ausschloss, so war nach Walz klar, dass logischerweise auch nicht von Intolerenz gesprochen werden könne, denn: „Ist eben die Kirche die einzige Trägerin u. Vermittlerin des Heils, so ergibt sich von selbst die absolute Verwerfung des relig. Indifferentismus oder der sog. relig. Toleranz (Duldung).“

Das Argugmentieren mit Heilswahrheiten wurde in den Pontifikaten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders deutlich. Ein erster dezidierter Verteidiger der katholischen Wahrheit in der Moderne war Gregor XVI. (1831-1846). Er grenzte den Katholizismus klar von der Moderne auch von Demokratien ab und verurteilte Theologen, die eine Einigung versuchten, des Fideismus und Rationalismus. Besonders die beiden Enzykliken Mirari vos und Singulari nos gelten als Hauptenzykliken gegen die Moderne. In diesen Lehrschreiben, die wohl vom Fürsten Metternich inspiriert waren, da sie den Ton der Karlsbader Beschlüsse trafen, verurteilte Gregor XVI. Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Indifferentismus in religiösen Fragen und Pressefreiheit. Außerdem wurde die kirchliche Zensur verteidigt. Mirari vos richtete sich vor allem gegen Ideen des Theologen Hugues Félicité (François) Robert de Lamennais (1782-1852), die von der Kirche abwichen und fragte Augustinus zitierend: „was für einen schlimmeren Tod (gibt es) für die Seele als die Freiheit zum Irrtum?“

Die verurteilten Freiheitsrechte, die auf der Märzrevolution 1848 durchgesetzt worden waren, setzten besonders ultramontane, also romorientierte Katholiken auf Basis neuscholastischer Theologie, gegen die Moderne ein. Gegen Liberalismus, Freimaurertum, Sozialismus und Protestantismus kämpfen sie vor allem mit der ihnen zugestandenen Presse- und Vereinsfreiheit.

1878 bestieg Leo XIII. den Papstthron. Er galt als „Meister der Politik“. Theologisch wurden die Lehren Thomas von Aquins und damit die Neuscholastik weiter ausgebaut. Seine Politik war nicht liberal, zeigte aber pragmatische Züge. Die Abgrenzung zur Moderne zeigte sich besonders in seiner Verurteilung des Amerikanismus. In der Enzyklika Longinqua an die amerikanischen Bischöfe vom 6. Januar 1895 ging er auf Probleme bezüglich des Unterschieds zwischen ziviler und kirchlicher Gesetze wie Ehescheidung ein und in seinem Brief Testem Benevolentiae nostrae an den Erzbischof von Baltimore James Kardinal Gibbons vom 22. Januar 1899, verurteilte der namentlich den Amerikanismus, der für ihn im Kern in dem Irrtum besteht, die katholische Kirche müsste ihre Glaubenslehren, das depositum fidei an die neuen Zeitumstände anpassen. Dies verwarf er in Bezugnahme auf die Konstitution Dei Filius des Ersten Vatikanischen Konzils.

In seiner Regierungserklärung machte Leo XIII. ausführlich klar, was seine Aufgabe sei: Das primäre Ziel sei das Heil der Seelen und das Wohl der menschlichen Gesellschaft. Darüber hinaus gelte es den Schaden durch die Revolution und die Gottlosigkeit wiedergutzumachen. Eine Rettung aus dem zunehmenden verderblichen Strom sei ohne Kirche nicht möglich. Diese habe heilsamen Einfluss und führe sicher zur Wahrheit und erziehe zur Tugend und Opferbereitschaft.

Leos XIII. Staatsdenken war geprägt von einem mittelalterlich-theokratischem Einheitsordo eines christlichen Europas. Er hing damit dem Legitimismus der traditionalistischen Rechtsschule an. Durch die Betonung des Naturrechts war jedoch auch eine Möglichkeit gegeben, sich vom Legitimismus zu lösen und dennoch distanziert dem säkular-liberalem Staatsverständnis gegenüberzustehen. In seinen Enzykliken Diuturnum Illud vom 29. Juni 1881 und Immortale Dei vom 1. November 1885 klärte Leo die wichtigsten Grundsätze seiner neuscholastischen Staats- und Gesellschaftslehre. In Immortale Dei verurteilte er mit Verweis auf seine Vorgänger Gregor XVI. und Pius IX. ebenfalls die unbedingte Meinungs- und Pressefreiheit, da diese Wahrheit und Sittlichkeit bekämpften und ein Zeichen von religiöser Indifferenz seien.

Den antimodernen Kurs wirs auch in der Ablehnung der Religionsfreiheit in derselben Enzyklika deutlich. Da es nach Leo XIII. nur eine wahre Religion gab, hatte auch nur eine Religion die vollen Rechte. Die Staatsmänner, die andere Religionen gleiche Rechte einräumen, um Übel abzuwenden, wurden jedoch nicht verurteilt. Damit hat nur die katholische Religion, bzw. der römisch-katholische Konfession die vollen Reche und andere Bekenntnisse allenfalls Toleranzstatus, der abhängig von der Gunst der Politiker ist, jedoch kein Recht an sich.  

In Diuturnum Illud verwarf Leo XIII. vor allem Autonomieansprüche, die Volksouveränität anstrebten, als gottlose Häresie, da die zu Gewalt führten, den Beginn der Unruhen sah er in der Reformation, den jüngsten gewalttätigen Ausbruch in der Französischen Revolution. Hier zeigt sich die prägende Erinnerung an die Französische Revolution als Gewaltbewegung, die nicht davor zurückschreckte Priester und Ordensangehörige zu töten und die bestehende Ordnung außer Kraft zu setzen.

Leo XIII. stellte dem modernen Staatsgedanken einen christlichen Gedanken von Kirche und Staat als societas perfectae gegenüber, die beide als vollkommende Gesellschaften aufeinander bezogen seien. Der bürgerlich-politische Bereich war nach Immortale Dei der Bereich des Staates, alles jedoch, was mit dem Heil der Seelen zu tun habe, war demnach Teil der Kirche und der kirchlichen Gewalt und Entscheidung unterstellt. Als Musterbeispiel betrachtete Leo XIII. hier eine fürstliche Autorität und göttliche Monarchie im weltlich-politischen Bereich. Bereits Paulus betonte die Unterwerfung unter die Obrigkeit, die Verweigerung des Gehorsams galt daher als Verbrechen gegen die göttliche Majestät selbst.

Da mit dem Bezug auf das Naturrecht und der societas perfecta Lehre Leos XIII. der Staat eine eigenständige vollkommene Gesellschaft war, musste diese nicht unbedingt eine Monarchie sein, sondern hatte vor allem darauf zu achten, ihren eigenen Kompetenzbereich, das heißt das Rechtsgebiet des bürgerlich-politischen, nicht zu überschreiten. Der Staat durfte demnach keine religiösen Züge tragen. So war die Möglichkeit gegeben, dass andere Gesellschaftsformen wie Demokratien unter bestimmen Bedingungen legitim sein könnten. Die parlamentarisch-monarchische Verfassung Belgiens wurde von Leo XIII. akzeptiert, wenngleich er auf absolutistische Monarchien mit katholischer Staatskirche starke Rücksicht nahm. Damit ein Gesetz bzw. eine Verfassung für den Papst legitim war, durfte sie nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des kirchlichen Lehramts und seinen als autoritativ interpretierten Naturrechtsnormen stehen. Legitim war nach Leo XIII. also eine Verfassung, die die Ordnung und Wahrung des christlichen Sittengesetzes garantierte.

Es ging im Kern nicht um einen politischen antimodernen Kampf, der jede Neuderung ablehnte, sondern um die Durchsetzung von Grundsätzen in Glaubens- und Sittenfragen. 

Das Pontifkat Leos XIII. sollte eines der längsten in der Kirchengeschichte werden. Er starb mit 93 Jahren am 20. Juli 1903. Das 25-jährige Pontifikat Leos war geprägt von Diplomatie. Leo XIII. galt als „eine geborene Herrschernatur und vielfach sein eigener Kanzler, kühl und nüchtern in seiner Lebensauffassung, lobte er seine Angestellten selten oder nie und stellte ungeheure Anforderungen an das Pflichtgefühl der Mitarbeiter, denen er seinen eigenen Maßstab anlegte. […] Er suchte den Frieden und die Harmonie um jeden Preis, nach innen wie nach außen, so daß er mehr als einmal diesem Hang zum Politisieren und Diplomatisieren, wie man es genannt hat, schwere Opfer brachte, die hart an prinzipielle Zugeständnisse stießen.“ (Josef Schmidlin, Papstgeschichte Band II).

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