Sonntag, 24. November 2024

Rezension: „Benedikt XVI. Ein Leben“

Von Dr. Christoph Rohde

Es sind lohnende fast 1100 Seiten, die mit dem Journalisten Peter Seewald einer der profundesten deutschen Kenner des Lebens und Wirkens Joseph Ratzingers produziert hat. Seine Biographie vermag es, eine umfassende Geschichte des Lebens und Wirkens Benedikts XVI. zu zeichnen, die spannend und anspruchsvoll zugleich geschrieben ist.

Durch die historische Kontextualisierung der Ratzinger prägenden Ereignisse wird der Leser in die Zeit geführt und kann die Denkweisen und Prägungen sehr gut nachvollziehen.

Eine geistliche Prädetermination

Allein die Umstände seiner Geburt, sein familiäres Umfeld und seine frühen Begegnungen mit wichtigen Geistlichen seiner Zeit wie Kardinal Faulhaber im oberbayerischen Raum lassen das Leben Joseph Ratzingers als prädestiniert für höchste kirchliche Weihen erscheinen. Dass Joseph an in einer Nacht zum Ostersonntag geboren wurde und seine Eltern Maria und Joseph hießen, passt zur Geschichte Benedikts ebenso wie die Frömmigkeit des Hauses, aus dem er entstammte.

Sein Traum, Priester zu werden, entwickelte sich genauso frühzeitig wie sein großes Interesse an der katholischen Tradition, Liturgie und intellektuellen Glaubensfragen. Der Heilige Benedikt, nach dem er sein Pontifikat benannte, begegnete ihm ebenfalls in jungen Jahren. Dieser Heilige begründete das Mönchstum und die Verbreitung von Bildung für breitere Bevölkerungsschichten. Früh stellte sich sein Interesse für die Theologie und sein herausragendes intellektuelles und sprachliches Vermögen heraus. Kriegserfahrungen und der politische und geistliche Neuaufbau des Landes waren große Herausforderungen für Ratzinger, die er für eine theologische Erneuerung der Kirche im II. Vatikanum nutzte.

Das Drama um die Habilitationsschrift

Ein Streit zwischen konkurrierenden Professoren hätte Ratzingers akademische Karriere nahezu beendet. Und dass, obwohl seine Dissertationsschrift über Volk und Haus in Augustins Lehre von der Kirche nicht nur fachlich höchste Anerkennung gefunden hatte, sondern auch sein Kirchenbild massiv in die Arbeit einfloss damit sukzessive in das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche insgesamt.

Seewald zeigt, dass Ratzingers in Freising verfasste Habilitationsschrift Die Offenbarung und Heilsgeschichte in der Lehre des Heiligen Bonaventura, vorgeschlagen von seinem Mentor und Doktorvater Gottlieb Söhngen, auf den heftigen Widerstand des Zweitkorrektors Professor Schmaus traf. Die Arbeit, so Schmaus, genüge formal und inhaltlich nicht den erwarteten Ansprüchen.

Es hielt sich das Gerücht auf dem Domberg, dass Söhngen in seiner Auseinandersetzung mit Schmaus Ratzinger bewusst in diese riskante Lage gebracht habe. Letztlich wurde dessen Arbeit massiv gekürzt und „trotz massiver Störfeuer von Schmaus wurde Ratzinger am 1. Januar 1958 zum außerordentlichen Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie … ernannt“ (S. 312). Die restlichen Teile seiner Habilitationsschrift wurden erst im neuen Jahrtausend veröffentlicht und von Ratzingers früherem Mitarbeiter Hans-Jürgen Verweyen kommentiert.[1] Sie enthält den Kern seines theologischen Denkens und erweist sich als theologisch äußerst modern.

Der Modernist im II. Vatikanischen Konzil

Eines der lehrreichsten Lektionen aus der Biographie ist für den Rezensenten das Paradoxon, dass Ratzinger, der heute als Erzkonservativer, wenn nicht gar als Revolutionär eingeordnet wird, in den sechziger Jahren den Ruf eines intellektuellen Modernisten der Theologie inne hatte.

Sein Einfluss auf dem Vatikanischen Konzil, in welchem er eng mit dem Kölner Kardinal Frings zusammenarbeitete, war enorm. Mit der deutschen und französischen Delegation und in Kooperation mit dem Theologen Karl Rahner wandte sich der spätere Papst gegen Kardinal Ottaviani. Deshalb wurde in konservativen römischen Kreisen kolportiert, er habe eine Art Verschwörung gegen den ehrwürdigen Kardinal angezettelt (S. 403).

Papst Johannes XXIII. aber begrüßte in eher stillschweigender Form diesen von Ratzinger initiierten Aufbruch in die Moderne. Ratzinger lernte auf dem Konzil auch Karol Wojtyła kennen, den späteren Papst Johannes Paul II., dem er als Leiter der Glaubenskongregation dienen sollte und dessen Wahl im Konklave er nachhaltig mit organisierte. Johannes Paul II. vertraute den theologischen Ansichten Ratzingers voll und ganz.

Barmherzig gegenüber Hans Küng

In Tübingen hatte Ratzinger Hans Küng kennen- und schätzen gelernt. Obwohl sich der spätere Papst sehr für das Fortkommen des liberal, um nicht zu sagen, weltlich denkenden  Popstars der deutschen Theologie bemüht hatte, fiel ihm Küng des Öfteren in den Rücken. Der spätere Begründer des Dialogs zwischen den Religionen im Sinne eines Weltethos nutzte eine Gelegenheit nach der anderen, um Ratzinger als Reaktionär dastehen zu lassen. Der spätere Papst jedoch verhinderte durch seinen Einsatz kirchenrechtliche Maßnahmen gegen Küng und erwies sich als souveräner, gnädiger Amtsträger und Mensch.

Die Affäre um die Aufhebung der Exkommunikation Williamsons

Die Wahl Papst Benedikts XVI. war eine Sensation, da seit über 500 Jahren zum ersten Mal wieder ein deutscher Pontifex gewählt worden war. Er galt von vornherein als Übergangspapst, der nach dem „politischen Papst“ aus Polen die theologischen Grundlagen konsolidieren sollte. Selbst im kritischen Deutschland wurde er positiv wahrgenommen wie auf dem Weltjugendtag in Köln kurz nach seiner Amtsübernahme im Jahre 2005.

Zu einem Bruch mit der deutschen Öffentlichkeit und Angela Merkel kam es, als Benedikt XVI. die Exkommunikation des Holocaustleugners Williamson von der Piusbrüderschaft aufhob. Das war eine offensichtliche Panne. Zur Rücknahme der Exkommunikation kam es, weil alle vier Bischöfe der Piusbruderschaft darum inständig gebeten hatte und bereit waren, das Konzil im Geist der Tradition anzuerkennen. Diese Entscheidung war ein Akt der Gnade und geschah ohne zu wissen, dass Wiliamson ein Holocautleugner ist.

Die Piusbruderschaft wurde durch die Rücknahme der Exkommmunikation auch nicht kirchlich anerkannt. Es ging darum, den Weg zurück in die kirchliche Anerkennung zu beginnen und den Zugang zu den Sakramenten zu ermöglichen. Der Bischof und die Bruderschaft haben nach wie vor keine kirchenrechtliche Anerkennung in der Kirche. Mittlerweile hat sich Bischof Williamson von der Bruderschaft getrennt und sich noch mehr radikalisiert.

Doch dieser Zusammenhang wurde von deutschen Presseorganen wie der Süddeutschen Zeitung bewusst verdreht dargestellt; auch Kanzlerin Merkel ließ sich von dieser manipulativen Form der Darstellung beeinflussen. Vorher hatte es schon Kritik an seiner Regensburger Rede gegeben, in welcher er durch ein indirektes Zitat auf die Gewaltzentriertheit des politischen Islam verwiesen hatte.

Für „progressive“ Kräfte in Deutschland kam diese Gelegenheit wie gerufen, mit dem ungeliebten Papst zu brechen, der den postmodernen Zeitgeist hart kritisierte und den westlichen Vernunftbegriff und das Christentum gegen seine Kritiker vehement verteidigte. Sein Kampf gegen die Wertebeliebigkeit der Gegenwart wird naturgemäß von Kulturrelativisten nicht gern gesehen.  Dass er den Missbrauchsskandal nicht entschieden bekämpft hat, entspricht ebenfalls nicht den Tatsachen, wie Seewald ausführlich darlegt.

Als zweiter Pontifex in der Geschichte trat er vor seinem Tod zurück. Der erste Papst war Coelestin V. im Jahre 1294 gewesen, der mit seinem Amt überfordert war. Einige Beobachter bringen als Ratzingers Motiv vatikaninterne Skandale in Spiel. In einem Interview als Anhang innerhalb der Biographie verneint Benedikt XVI. diese Gründe. Er zeigt, dass die für Bischöfe zulässige kirchenrechtliche Figur des Rücktritts auch auf den Pontifex beziehbar sei. Ihn verletze jedoch die Tatsache, dass manche ihn als Kritiker seines Nachfolgers Franziskus zeichneten. Diese Annahme wird an einer Schrift Ratzingers zur Judenfrage aus dem Jahre 2018 festgemacht, deren Aussagen Franziskus angeblich nicht geteilt habe.

Ein wenig mehr Kritik hätte nicht geschadet

Das hohe Maß an Bewunderung des Journalisten und Biographen für seinen Protagonisten begleitet den Leser auf dieser langen Reise durch das Werk. Das Buch ist spannend geschrieben, zeigt historische Kontexte auf und führt auch den theologischen Laien mit Behutsamkeit durch schwieriges Terrain. Dass Seewald Ratzinger gegen teilweise ungerechtfertigte Kritik zu verteidigen gedenkt, ist ein legitimes Anliegen.

Dennoch hätte er hier eigene begründete Kritik zum Beispiel an der Kommunikationsstrategie Benedikts formulieren können. Seewald belässt es dabei, Ratzingers mangelnde Entschlossenheit im Umgang mit unfairen Kritikern zu kritisieren. Trotz dieser kleinen Lacunae ist die Biographie ein gewaltiges Werk, das vielen Menschen helfen sollte, ihr Bild von diesem theologischen Jahrhundertintellektuellen zu verfeinern. Denn neben der intellektuellen Leistung Benedikts stellt Seewald den persönlichen, von Demut getriebenen Glaubens des gebürtigen Bayern hervor, der für wirkliche Gläubige eine Inspiration sein muss.


[1] Hans-Jürgen Verweyen: Ein unbekannter Ratzinger: Die Habilitationsschrift von 1955 als Schlüssel zu seiner Theologie. Regensburg 2010: Pustet Verlag.

Das Buch ist hier zu erwerben: https://www.st-stephani-verlag.de/

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