Erinnern Sie sich noch an den Friedensgruß? Dem Banknachbarn, mit dem wir gar nicht im Unfrieden lebten, sollten wir als Zeichen der Versöhnung freundlich die Hand reichen, nach dem Vaterunser und vor dem Agnus Dei – eine nette, sympathische Geste, zweifellos. In manchen Kirchen führte das zum Aufbruch, natürlich nicht in synodaler Absicht. Mancher Priester lief beherzt durch die Reihen der Gläubigen und schüttelte den frommen Christenmenschen die Hand. Mancherorts gab es den Friedensgruß auch im Winter, wenn Erkältungskrankheiten sich austobten.
Ob Gläubige husteten, niesten oder fieberten: Der Friedensgruß schien unverzichtbar. Der gebotene Infektionsschutz war vielleicht nicht mal vom Hörensagen bekannt. Kann denn Händeschütteln ungesund sein? Auch beherzter Gesang erfolgte, manchmal sogar unter Beachtung der Noten. Infektiöse Aerosole – überall. Trotzdem immer wieder: Seid nett zueinander! Ungeachtet aller behutsamen Ermahnungen aus Rom, es mit dem Friedensgruß nicht zu übertreiben – wer will die fröhliche Herzlichkeit schon eindämmen? Dann aber kam der Dammbruch an sich.
Die Corona-Pandemie machte fast allem ein Ende. Zu ihr gibt es viele Meinungen und Theorien, das wissen wir alle. Der Soziologe Max Weber, der im Juni 1920 der Spanischen Grippe erlag, empfahl wenige Monate vor seinem Tod – auch vieler Meinungen so müde –, ein jeder möge dem Dämon folgen, der seines Lebens Fäden in den Händen hält. Katholiken könnten hinzufügen: Und mehr noch dem kirchlich gebildeten Gewissen.
Der Augsburger Bischof Dr. Bertram Meier bemerkte launig bei seiner Amtseinführung, eine Bischofsweihe sei kein Maskenball, sondern ein Glaubensfest. Richtig … In manchen Diözesen ist Weihrauch erlaubt – beglückend waren die Nebelschwaden im Paulusdom, als Bischof Dr. Felix Genn am Pfingstsonntag das Sakrament der Priesterweihe spendete –, in anderen Bistümern wird darauf demütig verzichtet.
Mancherorts besteht Maskenpflicht, andernorts ist es erlaubt, sich zu maskieren. Die Anwesenheitslisten gibt es aber überall. Als nach der sogenannten „Bologna-Reform“ die regelmäßige Anwesenheit von Studenten in Seminaren und Vorlesungen dokumentiert werden sollte, war ich – damals Dozent für Philosophie und Theologie – doch sehr skeptisch. Erst folgte ich den Vorgaben, doch wie oft war ich vergesslich: die Listen lagen im Büro, zu Hause, irgendwo, nirgendwo, ach – was weiß ich. Später schafften einige Dozenten diese Kontrollen ab, die von den Sympathisanten dieses neuen Systems didaktisch, pädagogisch, akzidentell und substanziell begründet wurden. Die Kontroversen darüber verdrängten an der Hochschule jede inhaltliche Debatte. Mein Bedürfnis nach Diskursabstinenz war schon damals sehr ausgeprägt.
Heute nun – aus anderen Gründen – werden Anmeldeverfahren und Anwesenheitslisten geführt, wenn wir eine heilige Messe mitfeiern möchten. Ich kann nur sagen: Ja, es ist so – allora. In manchen Pfarreien, die früher eher eine modernistische und kreative Liturgie feierten, lesen wir auch: „Den Anweisungen der Ordner ist unbedingt Folge zu leisten!“ Die liturgischen Normen – auch in der Nachkonzilszeit – galten und gelten. Noch immer sind diese Normen verpflichtend, aber der Ermessensspielraum schien so oft sehr viel größer.
Die Literatur über liturgische Missbräuche füllt Bibliotheken. Manches habe ich selbst noch in unguter Erinnerung, aber ich gestehe offen: Ich möchte davon nichts mehr lesen müssen. Die meisten von uns haben wahrscheinlich viele Formen des gut gemeinten Eigensinns erlebt – und wünschen sich einfach nur noch eine normale heilige Messe, vor der sie sich nicht fürchten müssen.
Welches Missale beachten wir heute? Vielleicht das „Missale Hygienicum“? Die Plätze in den Kirchen sind markiert, manchmal dezent, manchmal in grellen Farben. Auf den Fußböden kleben mancherorts Abstandsmarkierungen wie im Supermarkt. Mancher hat vielleicht schon überlegt: Ob ich einen Platz im Hochparkett von St. Cäcilia bekomme? Oder bevorzuge ich lieber die letzte Reihe in St. Martinus? Wenn ich den „Anmeldezeitraum“ verpasst oder vergessen habe, was mache ich dann? Bleibe ich einfach – solange der Dispens von der Sonntagspflicht besteht – draußen vor der Tür? In einigen Kirchen werden auch Zuspätkommende nicht mehr hineingelassen.
Ja, wir leben in sehr besonderen Zeiten. Und ich hoffe darauf, wie Bischof Dr. Meier sagte, dass eines nahen Tages die heilige Messe als Fest des Glaubens wieder sichtbar wird – und der Corona-bedingte Maskenball Geschichte ist.