Von Dr. Martin Voigt
Wie lebt es sich zwischen Dönerbuden, Veganern und Schweinen, die Gassi geführt werden?
„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“ Ein Sommermärchen. Schwarz-rot-goldene Fahnen wehen unter einem strahlend blauen Himmel. Menschenmengen jubeln vor riesigen Leinwänden. Public Viewing, ein toller neuer Begriff geht durch die Medien. Modern, hipp, international. Von außen betrachtet ein bisschen schräg, denn im Englischen bedeutet Public Viewing die Aufbahrung einer Leiche. – Ein Neologismus, wie gemacht für die deutsche Hauptstadt. Sexy, morbide und spießig im Bestreben alternativ zu wirken. Das wirklich lockere Pendant, das Rudelgucken, das kam später auf, da war Deutschland schon ausgeschieden im Halbfinale gegen Italien. Die Nationalelf musste in der schwäbischen Provinz um Platz drei spielen anstatt im Olympiastadion aufzulaufen. Trotzige Feierlaune der Gastgebernation erschallte allerorten: „Berlin, Berlin, wer will schon nach Berlin?“
Ja, wer will da schon hin? Von München aus dem Nordostwind entgegen? In die Kälte!
Berlin, die Stadt im Wasser. Über 40 Seen und durchzüngelt von Havel und Spree. Die Stadt im Grünen. Über 2.500 Parks und um die 90 Natur- und Landschaftsschutzgebiete. 3,6 Millionen Einwohner finden, in Berlin lässt es sich gut und gerne leben. – Vermutlich finden sie das. 440.000 Straßenbäume haben die Statistiker gezählt im vergangenen Jahr, und 196.769 Kinder in Ganztagseinrichtungen. Säuglinge und Kleinkinder in Krippen nicht mitgezählt. Das waren nochmal 51.676.
Manche denken, früher, als der Antifaschistische Schutzwall noch stand, da war alles besser. Die Schrippen waren günstig, jede Mutti durfte, sollte, musste arbeiten und über Schwangerschaftsunterbrechungen wurde nicht offiziell Buch geführt. Die Touristen heute interessieren sich mehr für den Check Point Charlie.
Ausgebuchte Privatschulen
Berlin ist die Stadt der Currywurst, sagt man. Irgendwo zwischen Dönerbuden, Nagelstudios und Wettbüros findet man sie bestimmt noch. Falls nicht, dann im Deutschen Currywurst Museum in Berlin-Mitte. Wer sich seine Currywurst am Steh-Imbiss herzlich schmecken lässt, darf sich über böse Blicke nicht wundern. Viele Veganer reagieren aggressiv auf das öffentliche Verspeisen von Lebewesen. Manchen ist es wurscht. Veganer vermehren und ernähren sich tierleidfrei und leben in Friedrichshain und jenen Bezirken, die eine höhere Dichte an Bioläden als Lidl-Filialen aufweisen. Chiasamen und Avokado sind ihr Leibgericht, manchmal Saitan-Bratlinge.
Da fragt man sich, warum hat der alte Fritz so etwas Profanes wie die Kartoffel anbauen lassen? Aber er hat noch seine Fans. Sie Pilgern nach Potsdam zum Schloss Ohne Sorge (sanssouci) und legen Kartoffeln auf seine Grabplatte.
Vorsicht, wir driften ab in Volkstümelei! Es gibt Deutsche in Berlin, die etwas despektierlich auf alles schauen, was sie für typisch deutsch halten. Von außen betrachtet, ist das schwer zu verstehen. Denn auf den Spielplätzen in Zehlendorf und Charlottenburg heißen die Kinder wieder Paul und Emil und Greta und Emma. In Neukölln und Marzahn geben klein Ali und Mohammed den Ton an. Die Eltern von Finn-Luca und Mia-Shania überlegen deshalb, ihre Kinder in eine Schule im nächsten Bezirk zu schicken oder Berlins private Montessori-Schule Nummer acht zu gründen. Auch die Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen haben wie alle Privatschulen lange Wartelisten und teure Plätze.
Berlin, dieses pulsierende Monstrum auf 892 Quadratkilometern, hat übrigens so viele Kirchen, dass Wikipedia nur jene Sakralbauten auflistet, „die kirchengeschichtlich, stadtgeschichtlich oder architektonisch von besonderer Bedeutung sind“. Wenn Sie an einem schönen Sommerabend nichts vorhaben, können Sie die kirchengeschichtlich, stadtgeschichtlich oder architektonisch relevanten Sakralbauten einmal in Ruhe durchzählen.
Trotz des enormen Angebots für Gläubige ist für viele alteingesessene Berliner ein religiös motivierter Kirchenbesuch ungefähr so naheliegend wie für Veganer der Verzehr eines dicken, fetten Hackepeter-Igels (auch Mett-Igel, Schweinehackfleisch mit Zwiebeln). Was ihnen wirklich am Herzen liegt, dass kann man im Sommer in den unzähligen Freibädern und an den Ufern der Freigewässer beobachten, wenn sie halb- oder ganz nackt gucken, wer so guckt. Was ihnen wichtig ist und was sie nicht vergessen wollen, das ritzen sie sich in die Haut. Leitsprüche, Botschaften, Sentimentales, Aufbauendes, Geburtsdaten, wann man mit wem zusammengekommen ist (Weglasern ist ein boomendes Geschäft), oder einfach nur „weils geil ausschaut!“ Die Tattoos der Berliner sind so individuell bedeutsam wie die Saucen-Rezepte all der Imbissbuden, die die Entdeckung der Currywurst für sich reklamieren.
„Ein jedes Tierchen hat sein Pläsierchen“, heißt eine Berliner Redensart, und seien Sie’s gewiss, besteigen Sie die Ring-S-Bahn ohne deutlich erkennbares Pläsierchen, dann fallen Sie garantiert auf, aber nicht unbedingt angenehm. Vorsichtshalber sollten Sie stets eine offene Bierflasche (kein Berliner Kindl – damit outen Sie sich als Tourist) oder eine Regenbogenfahne oder zumindest ein Peace-Zeichen auf Ihrem Rucksack mit sich führen.
Berlin ist so bunt, dass die einzelnen Farben manchmal nur noch schwer zu erkennen sind. In den westlichen Bezirken, dort wo die bunte Melange allmählich in gediegenes Ocker übergeht und die Gründerzeitvillen immer weiter versetzt zur Straße stehen, legt man besonderen Wert auf die schillernden Synonyme für bunt: Tolerant, weltoffen und multikulturell. Dit is Berlin, wa?
Die Zehlendorf-Uniform (gesteppte Barbour-Jacke und lederne Segelschuhe) zeigt jedoch, wie gern man unter seinesgleichen um den Schlachtensee spaziert. Angeleint an ihre Vierbeiner – die sind tatsächlich so multikulturell wie der Rest von Berlin – plaudern sie über Politik, Kunst oder die Kosten für Scheidungsanwälte. Die Mode, Hundekot in roten Plastiktüten einzusammeln, ist genau hier entstanden.
Keiner kann sich Berlins Charme entziehen
Ob Ashtanga Vinyasa Yoga oder klassische Chorprobe, das bunte Bildungbürgertum kommt auf seine Kosten und geräumige Parkplätze für die gängigen SUV-Modelle sind vorhanden. Radfahren ist eher dort populär, wo man zu seinem Viertel Kiez sagt.
Ja, so ist das. Widerwillig ziehen die Leute nach Berlin und nach ein paar Monaten sprechen sie von ihrem Kiez. Keiner kann sich dem Charme Berlins entziehen. Langsam aber stetig geht der Ekel in Faszination über und das Herz flüstert leise: Berlin, ick liebe Dir! Und der Verstand denkt: Scheiße! Und wenn sie wieder wegmüssen, stecken sie ihrem Lieblingspenner nochmal einen Euro zu.
Berlin ist eine Stadt der Extreme und eine zerrissene oder vielmehr eine fragmentierte Stadt und das liegt nicht allein daran, dass mal einer nicht die Absicht hatte, eine Mauer zu errichten, und es dann doch tat. Nein, es ist anders. Der zersprungene Spiegel, der dem flüchtigen Betrachter nur Hässliches präsentiert, ist in Wahrheit ein Kaleidoskop. Wer sich auf seinen Zauber einlässt, taucht tief ein in eine Welt, die sich jedem anders präsentiert.
Jenseits der sechsspurigen Verkehrsadern stolpert der Neugierige unversehens in einen Hinterhof oder ein kleines Sträßchen, weil irgendetwas für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit fesselte. Er weiß gar nicht so genau, was es war. Ein Schwein, das Gassi geführt wird? Die Jagd beginnt. Tausende Brücken, Gässchen, Ecken, Winkel. Schaufenster mit Absonderlichkeiten. Und Unter den Linden ist auf einmal Lichtjahre entfernt. Dann bist Du in Deinem Berlin. Jeder Berliner schwärmt von einer anderen Stadt.
Die Kinder vom Bahnhof Zoo sind erwachsen geworden und tagsüber lenken sie in ihren Amtsstuben die Geschicke der Stadt. Doch die Nacht gehört den Berlinern, den spielenden Kindern. Sie sind der Puls der Stadt. Die Gegenwart dauert, solange Du spielst. Unter Berlinern nimmt es dir keiner übel, wenn Du nicht erwachsen werden willst. Gott nimmt es Dir auch nicht übel. Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner, sagte Theodor Fontane. Berlin ist eine Stadt, in der täglich 25 Kinder abgetrieben werden.
1000plus eröffnet demnächst ein Beratungszentrum in Berlin. Etwa 10.000 Kinder werden in Berlin pro Jahr abgetrieben. Nationalrekord im Städtevergleich.