Eine Programmschrift der Liturgischen Bewegung wird 100. Zugleich im Gedenken an den Autor anläßlich seines 50. Todestages
Von Christoph Matthias Hagen
Romano Guardini (1885-1968) gilt – im Umfeld und Anschluß an die Benediktinerabtei Maria Laach in der Vulkaneifel – als ein Protagonist der Liturgischen Erneuerung in Deutschland. Sein prägnantes Büchlein Vom Geist der Liturgie, eigentlich eine Aufsatzsammlung, deren einzelne Beiträge dann gegenüber der ursprünglichen Chronologie ihrer Entstehung in neuer Anordnung die Kapitel bildeten, erschien erstmals Ende Mai 1918 und gilt seither schlechterdings als die Programmschrift der Liturgischen Bewegung. Vielfach wird sie für die Liturgiereform nach dem II. Vaticanum in Anspruch genommen.
Dieser Anspruch wird nach wie vor mit großer Überzeugung, jedenfalls mit einer gewissen Selbstverständlichkeit erhoben. Damit ergeht es dem Autor und seinem Werk nicht anders als vielen anderen Vertretern der frühen Liturgischen Bewegung des 20. Jahrhunderts und deren Schriften, doch mit hundert Jahren Abstand bietet sich ein Anlaß, diese Behauptung und Vereinnahmung auch einmal kritisch zu überprüfen, indem man sie nicht unbesehen übernimmt, sondern das Buch wirklich wiederum und von neuem vorurteilsfrei liest.
Die Poesie von Guardinis Schreibstil mag überhaupt von der Lektüre zurückscheuen lassen, und wenn man sich dadurch nicht von ihr abhalten läßt, mag sie dennoch auf den ersten Blick darüber hinwegtäuschen, daß Guardinis Liturgieverständnis nichts von Ergriffenheit und Pathos anhaftet, sondern im Gegenteil grundlegend von großer Nüchternheit ist. Darin besteht gerade ein entscheidendes Eignungskriterium, dem die liturgische Form, dem Ritus und Kult entsprechen müssen, daß „Einrichtungen, Übungen, Gebete, die das ständige gemeinsame Andachtswesen ordnen, (…) nicht einem einmaligen Zustand Ausdruck geben, sondern dem durchschnittlichen Leben des Alltags gerecht werden“[1] müssen.
Dies schließt alles Schwärmerische ebenso aus, wie es einer extemporierten Liturgie widerspricht, die im Augenblick entsteht oder sich bloß dem einzelnen Liturgen oder einer einzelnen Gemeinde verdankt. Liturgische Form und Gestalt stehen naturgemäß im Gegensatz zu persönlicher und momentaner Spontaneität; Situationsliturgie kann es nicht geben. Diese „Grundbedingungen werden dort am reinsten zu Tage treten, wo sich das Andachtsleben einer großen Gemeinschaft durch lange Zeit hindurch entwickeln konnte. Die Wesensgesetze haben dann Zeit gehabt, sich voll zur Geltung zu bringen. Im Zusammensein von Menschen verschiedenster Veranlagung, verschiedener gesellschaftlicher Schichtung, vielleicht auch verschiedener Volksart, im Laufe verschiedener geschichtlicher Perioden ist das Zufällige und Besondere bis zu einem gewissen Grade abgefallen, und das Wesentliche, Allgemeingültige ist hervorgetreten.“[2] Mit diesem langen Entwicklungsgang spricht Guardini Einfluß und Recht des Traditionsmomentes in der Liturgie an und weist wenigstens einschlußweise darauf hin, daß Liturgie zwar entsteht, aber nicht gemacht werden kann; auch nicht aufgrund der Anordnung einer kirchlichen Autorität.
Guardini schrieb nicht in Kenntnis und sicher auch nicht in weiter Voraussicht einer tiefgreifenden, amtlichen Liturgiereform, und doch muß hier wohl eine Kritik erkannt werden, die er am Ritus Pauls VI. geübt hätte: sowohl an der Art und Weise von dessen unnachgiebiger Dekretierung und Durchsetzung, als auch an der Kreativität, zu der er durch seine unzähligen Wahlmöglichkeiten und noch zusätzlich zu diesen quasi wie von selbst und zwangsläufig verleitet. Doch stellt Guardinis Konzeption von Liturgie nicht nur Anfragen an die Möglichkeit und Grenze neu geschaffener Liturgie, sondern nicht weniger an den nachkonziliaren liturgischen Traditionalismus, insonderheit seit Benedikt XVI. die überlieferte Römische Liturgie ihrer durch Paul VI. reformierten Gestalt als außerordentlich zur Seite und gewissermaßen gegenübergestellt hat. Gesunde Liturgie ist für Guardini per definitionem „via ordinaria“[3] , alles Außerordentliche einer momentanen oder zwar dauerhaften, aber bloß individuellen Verfassung, Vorliebe oder Neigung kann sich liturgisch nicht auf Guardini berufen.
Dieser Widerspruch schließt dreierlei aus. Einmal, daß eine Liturgie, die in der Praxis von Ort zu Ort und von einer Gottesdienstgemeinde zur anderen, ja von einer Meßfeier zur nächsten verschieden und unvorhersehbar ist, die via ordinaria des gottesdienstlichen Lebens der Kirche sein kann. Sodann, daß die legitim gereifte liturgische via ordinaria plötzlich zur via extraordinaria einiger, weniger Nostalgiker oder Ästhetizisten wird. Schließlich, daß es überhaupt eine Liturgie geben kann, die außerordentlich ist oder wird und gleichzeitig als Liturgie der Kirche geeignet und tauglich bleibt. Diese drei Verzerrungen werden im weiteren Verlauf noch verständlicher werden, Romano Guardini kommt selbst in seinem Buche immer wieder vertiefend und klärend darauf zurück.
Nüchternheit der Liturgie als Grundlage ihrer Allgemeingültigkeit
Zunächst ist es wichtig, folgendes zu erfassen. Guardini ist nicht technisch-mechanischer Rubrizist, und er lehnt auch nicht das Gefühl als solches ab, aber er weiß, daß das Gefühl durch den Gedanken geläutert und abgeklärt werden muß. Die Formulierung der traditionellen Katechismen seiner Zeit zitierend, schreibt er: „Beten ist gewiß ‚eine Erhebung des Gemütes zu Gott‘. Aber das Gemüt muß geleitet, gestützt, geklärt sein durch den Gedanken.“[4] „Der dogmatische Gedanke macht frei von der Knechtschaft des Gemütes, von der Verschwommenheit und Trägheit des Gefühls.“[5] Liturgisches Beten, gemeinschaftlicher Gottesdienst einer großen Einheit von Menschen muß selbst einheitlich und ganzheitlich sein, was nicht Uniformität bedeutet, aber jede einseitige Auswahl, jeden Partikularismus des einzelnen Gläubigen oder einer speziellen, zum Gottesdienst zusammengeschlossenen Gruppe ad absurdum führt.
Von signifikanter Aktualität ist, auch, nachdem das Heilige Jahr der Barmherzigkeit vorüber ist, im gegenwärtigen Pontifikat zweifelsohne ein konkretes Beispiel, das wir bei Guardini lesen und das er wählt, um das Gesagte zu veranschaulichen: „Wollte sich z.B. ein Gebet nur mit Gottes verzeihender Barmherzigkeit beschäftigen, so würde das auch einem zartgestimmten Seelenleben auf die Dauer nicht genügen. Diese Wahrheit ruft nach ihrer Ergänzung: der Hoheit und Gerechtigkeit Gottes. So muß also die ganze Fülle der Glaubenswahrheiten in jenen Gebetsformen ausgebreitet sein, die einer Gesamtheit auf die Länge Genüge tun sollen. (…) Also wird nur dann ein gemeinsames Gebet auf die Dauer fruchtbar werden, wenn sich die Andacht nicht ganz oder mit Vorliebe auf bestimmte Teile der Offenbarungswahrheit einschränkt, sondern den vollen Inhalt der göttlichen Lehre so weit als möglich ins Gebet hereinzieht. (…) Ohne den großen Zug verkümmert das geistliche Leben, es wird eng und kleinlich.“[6]
Die liturgische Aussage muß also für Guardini inhaltlich vollständig und dabei zugleich maßvoll und nachgerade durchschnittlich sein, um einer Gesamtheit von Gläubigen im Gottesdienst Tag für Tag dienen zu können. Sie darf nicht einem augenblicklichen Hochgefühl und ebensowenig momentaner Niedergeschlagenheit entstammen. Nur so erlaubt sie dem einzelnen, der sich in die liturgische Gesamtheit einbringt, sich ihr wirklich anzuschließen. Wo dies nicht beachtet würde, erblickt Guardini eine Gefahr mit zwei Seiten, daß nämlich die Aussage der Liturgie unecht werde. Entweder, sie erzwingt eine bestimmte Stimmung, die der einzelne gar nicht hat, oder aber er nimmt das Gebet nicht ernst, schwächt es für sich ab, nimmt es innerlich gar zurück.
Das, was man auch den Gleichmut oder die Indifferenz der Liturgie nennen könnte, verleiht dem Kult umgekehrt Echtheit und Allgemeingültigkeit.[7] Damit einher geht die Ermöglichung wirklicher Teilnahme aller am Gottesdienst, die Guardini als „dramatisch“[8] und auf Steigerung gerichtet charakterisiert, wobei man an die zuerst von Pius X. aufgebrachte Prägung der participatio actuosa denken möchte. Diese mit aktiver oder tätiger Teilnahme zu übersetzen, mutet vom Lateinischen her sprachlich falsch und inhaltlich unbefriedigend an. Im Gesamtzusammenhang und Kontext von Guardinis Zugang möchte man am ehesten etwa innewerdende Teil-Habe als treffende Wiedergabe des Gemeinten im Deutschen vorschlagen.
Liturgische Gemeinschaft im Wir der Gebetssprache
Vor diesem Horizont ist es bezeichnend, daß Guardini seine anfänglich gemachte Bemerkung: „Das Ich der Liturgie ist (…) das Ganze der gläubigen Gemeinschaft als solcher, ein über die bloße Gesamtzahl der Einzelwesen hinausliegendes Mehr, die Kirche“[9], später präzisiert und berichtigt: „Die Liturgie sagt nicht ‚Ich‘, sondern ‚Wir‘, es sei denn, daß die betreffende Handlung die Einzahl in besonderer Weise fordert (…). Die Liturgie wird nicht vom einzelnen, sondern von der Gesamtheit der Gläubigen getragen. Diese Gesamtheit nun setzt sich nicht nur aus den Menschen zusammen, die gerade in der Kirche sind; sie ist nicht nur die versammelte ‚Gemeinde‘. Sie dehnt sich vielmehr über die Schranken des betreffenden Raumes hin aus und umfaßt alle Gläubigen auf der ganzen Erde. Über die Schranke der Zeit greift sie ebenfalls hinweg, insofern sich die auf Erden betende Gemeinschaft auch mit den Heimgegangenen eins weiß, die in der Ewigkeit stehen. Allein die Bestimmung des Allumfassens erschöpft den liturgischen Gemeinschaftsbegriff noch nicht.
Das Ich[10], welches die liturgische Gemeinschaftshandlung trägt, ist nicht die einfache Zusammenzählung aller gleichglaubenden Einzelnen, aber sofern die Einheit als solche etwas ist, abgesehen von der Menge derer, die sie bilden: die Kirche.“[11] An dieser Stelle angelangt, bietet es sich an, auf einen Aspekt im Vorwort zu Vom Geist der Liturgie einzugehen, auf das Guardini besonderen Wert gelegt und das der damalige Laacher Abt Ildefons Herwegen OSB (1874-1946) beigesteuert hat. Dieser behauptet dort: „Unsere Zeit, die den Rationalismus überwunden hat, die der Mystik entgegenstrebt, ist mehr als die jüngste Vergangenheit vom Wunsche beseelt, Gott näherzukommen. Auch das Arbeitsfieber, das die Menschheit ergriffen hat, das einen Ersatz für die Religion bieten möchte, vermag die mystische Sehnsucht der Seele nicht zu ersticken. (…) Das Individuum, durch Renaissance und Liberalismus großgezogen, hat sich wirklich ausgelebt. Es sieht ein, daß es nur im Anschluß an eine ganz objektive Institution zur Persönlichkeit reifen kann. Es verlangt nach der Gemeinschaft.“[12]
Gerade mit Blick darauf, daß Guardini in der weiteren Entwicklungslinie seiner Argumentation schon vor hundert Jahren die Liturgiefähigkeit des „heutigen Menschen“[13] skeptisch beurteilt, darf man annehmen, daß er schon damals Herwegens Einschätzung nicht geteilt hat. Der Individualismus der sich seither durchgesetzt hat, widerlegt den Laacher Abt beredt und hat sich zu einer Singlementalität potenziert, die vielleicht auch schon in den Reformen der 1950ger und erst recht nach dem II. Vaticanum angelegt war und deshalb nicht gelingen konnte. Liturgie kann, dies wurde schon gesagt, nicht gemacht werden. Eine Generation, die selbst nicht (mehr voll) liturgiefähig ist, kann aber auch keiner Liturgie Gestalt geben, erst recht nicht gegen diejenige Gestalt der Liturgie, die zeit- und raumübergreifend geworden und gereift ist und die allein beanspruchen kann, via ordinaria zu sein.
Liturgischer Stil und kultische Umgangsform
Werden und Reife liturgischer Form bringen sich auch dort zur Geltung, wo vom liturgischen Stil gesprochen wird. Man kann Guardinis Ausführungen zum liturgischen Stil oder zum Stil in der Liturgie dahingehend zusammenfassen, daß er dadurch gegeben ist, gültige Selbstaussage zu sein, nicht nur jedoch die eines vereinzelten Ich, eines Moments und einer isolierten Situation, sondern die eines Wir, die als Grundaussage dergestalt abstrahiert ist, daß sie durchschnittlich im Sinne alltäglicher Tauglichkeit Ausdruck von Echtheit und Allgemeingültigkeit sein kann.[14] In Guardinis eigenen Worten klingt das so: „Das Wort ‚Stil‘ hat hier eine besondere Bedeutung. Es meint, daß in dem betreffenden Gebilde das Einzelhafte vor dem Allgemeinen zurücktritt.
Das Zufällige, zeitlich und örtlich Bedingte, das, was nur für diesen bestimmten Menschen, dieses bestimmte Wesen gilt, wird von dem zurückgedrängt, was notwendig, wenigstens notwendiger, ist, was für viele Zeiten, viele Orte und Menschen steht. (…) Die Liturgie hat Stil im strengen Sinne. Sie ist nicht der unmittelbare Ausdruck einer besonderen Seelenverfassung, weder in ihren Gedanken und Worten noch in ihren Bewegungen, Handlungen und Geräten. (…) Dazu hat vieles mitgewirkt. Einmal haben die langen Zeiten immer wieder die liturgischen Gebilde abgeschliffen, ausgefeilt, angepaßt. Dann muß die stark verallgemeinernde Einwirkung des theologischen Denkens berücksichtigt werden. Endlich war auch der Einfluß des griechisch-lateinischen Geistes, seiner im Stil im strengen Sinn gerichteten Art von besonderer Bedeutung.“[15]
Guardini sieht einen Zusammenhang von Stilbildung und der Ausbildung von Umgangsformen und höfischem Brauch.[16] Zugleich hält er fest: „Wirklicher Stil behält auch in den strengsten Formen die überzeugende Kraft gewachsenen Ausdrucks.“[17] Deswegen kann Stil nicht am Schreibtisch entworfen werden, sich nicht in kurzer Zeit oder gar plötzlich und spontan bilden.
Es ist ihm bewußt, daß darin eine Herausforderung besteht: „Es ist nicht zu leugnen, daß in diesen Eigenschaften der Liturgie für jeden Menschen, besonders für den heutigen, große Schwierigkeiten liegen. Er will – zumal, wenn er von selbständiger Sinnesart ist – das Gebet als unmittelbaren Ausdruck seines Seelenzustandes. Und nun soll er eine Welt von Gedanken, Gebeten, Handlungen als Ausdruck seines Innenlebens annehmen, die ihm in ihrer Allgemeinheit gleichsam zu weit ist, ihm nicht paßt. Er empfindet sie als kühl, fast leer.“[18]
Diese Feststellungen und Beobachtungen Guardinis erscheinen unvermindert, sogar gesteigert aktuell. Sie zeigen an, daß es gerade die Eigenschaften der Formalisierung und Stilisierung sind, die dem Zeitgenossen, und wir alle sind untereinander solche, an der Liturgie Schwierigkeiten und Hindernisse bereiten. Und nicht nur das. Wahrscheinlich liegt hier der Kern des Problems moderner Liturgiereform und moderner Liturgie frei – und auch der konkreten gottesdienstlichen Feier, die sich nicht einmal noch in die ohnehin stark zurückgenommene Stilisierung – und entsprechend stark ausgeprägte Individualisierung – moderner liturgischer Riten fügen kann, vorausgesetzt, daß man einen Ritus, der demnächst zwar erst, aber doch auch schon auf fünfzig Jahre seiner Existenz zurückblickt, überhaupt noch modern nennen kann.
Allerdings kann dieses halbe Jahrhundert auch die Gelegenheit mit sich zu bringen, diesen Ritus zu überprüfen und zu schauen, was daran und darin sich in den vergangenen Jahrzehnten seiner Anwendung tatsächlich bewährt hat und insofern von echtem liturgischen Stil dauerhaft integriert werden könnte, aber auch, was davon, an diesem Stil gemessen, auf Dauer wieder ausgeschieden werden müßte.
Vorhin schon kam in Guardinis Gedankengang die Ausbildung von Umgangsformen und – in gesteigerter Stilisierung – der Sonderfall höfischen Brauchs zur Sprache. Nur als Andeutung und in einer knappen Fußnote. Dieser Ansatz erhält jetzt Brückenfunktion und weitere Ausgestaltung bei der Erwiderung auf den Einwand, ob nicht liturgische Stilisierung, Form und Gestalt im Widerspruch stünden zum Verkehr des seelischen Innenlebens und Erlebens des Menschen mit Gott, der reinster Geist ist.
Ein platonischer Einwand, der fragt, ob Körperlichkeit im Gebet und Verkörperung des Kults nicht eigentlich zu überwinden seien: „Symbolbildende Kraft war z.B. am Werke, als die grundlegenden Weisen des Umgangs geschaffen wurden. Dahin gehören die Formen, in denen der eine dem andern seine Ehrfurcht oder Teilnahme bezeigt, in denen die Innenvorgänge des gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck kommen u. a. Weiter, das ist in diesem Zusammenhang besonders bedeutungsvoll – die geistlichen Gebärden: daß der geistlich bewegte Mensch kniet, sich verneigt, die Hände faltet oder auflegt, die Arme ausbreitet, an die Brust schlägt, etwas darbringt usw.“[19]
Diese Ausdrucksmittel und Weisen, die eben auch im profanen Bereich als Umgangsformen vorkommen, begegnen nicht anders im Sakralen; Liturgie und Ritus sind kultische Umgangsform. An dieser Stelle muß beachtet werden, welche Definition von Symbol Guardini annimmt: „Ein Symbol entsteht, wenn etwas Innerliches, Geistiges seinen Ausdruck im Körperlichen findet.“[20] Gleich im Anschluß stellt er negativ klar, daß er dabei nicht an eine mehr oder minder freie und willkürliche Konvention denkt.
Liturgie und Symbol
Ein Symbol liegt also ausdrücklich dann gerade nicht vor, „wenn – wie in der Allegorie – irgendein geistiger Inhalt durch Übereinkunft an etwas Körperliches geknüpft wird, wie z. B. ‚die Gerechtigkeit‘ an das Bild der Waage. Das Innerliche muß sich vielmehr lebendig, mit Wesensnotwendigkeit ins Äußerliche umsetzen.“[21] Durch ihre Symbolhaftigkeit gilt für die Liturgie insgesamt, was Guardini vom Symbol sagt: Es beziehungsweise sie – die Liturgie – „besitzt (…) einmal gestaltet (…) Allgemeingültigkeit, ist allgemein verständlich und bedeutungsvoll.“[22]
Deshalb entsteht Liturgie nicht ad hoc in der einzelnen gottesdienstlichen Situation jeweils neu und kann auch nicht durch Übereinkunft oder amtliche Autorität jederzeit beliebig neu geformt und vorgegeben werden. Sie kann es nicht und sie muß es auch nicht, weil sie bereits von innen her – nicht bloß positivistisch – allgemeingültig und vorgegeben ist.
Der ursprüngliche Anfang der in Vom Geist der Liturgie zusammengestellten Kapitel bildet im abgeschlossenen Buch das fünfte der insgesamt sieben Kapitel. Dieses Herzstück des Werkes widmet sich der Liturgie als Spiel. Der Gedankengang über die Liturgie als Spiel hat folglich im Gesamt des Buches die entscheidende Schlüsselstellung für dessen rechtes Verständnis inne.
Liturgie als Spiel und ihre utilitaristische Versuchung
Wenn man ihn nachzeichnen will, bilden die Begriffe Zweck und Sinn, Spiel und Kunstwerk, beziehungsweise Kind und Künstler die unverzichtbaren Koordinaten. Zweck und Sinn stellen dabei zwei entgegengesetzte Ziele dar, Kind und Künstler die sich ergänzenden Beispiele für das Sinnerfüllte dessen, was mit Spiel und Kunst gemeint ist.
Guardini nimmt seinen Ausgangspunkt von einem utilitaristischen Mißverständnis, um zu zeigen, daß Liturgie zwar zweckfrei ist, was dem Utilitaristen als zwecklos erscheint, der nicht erkennen kann, daß Zweckfreiheit eine Freiheit für etwas ist, daß also Liturgie zwar nicht zweckgebunden ist, gerade so aber sinnvoll sein kann.[23] Hier muß wiederum eine kritische Anfrage an die nachkonziliare Liturgiereform und Gottesdienstpraxis platziert werden. Nimmt man beide in Augenschein, drängt sich ausgerechnet ein solches utilitaristisches Verständnis auf. Ist es nicht gerade ein rationalistisches Verständnis, das beide leitet?
Deswegen die verkürzte Sicht sprachlicher Verständlichkeit und der Einsehbarkeit der vereinfachten Riten durch die Stellung des Zelebranten am Volksaltar, gepaart mit einer didaktisch-pädagogischen Nutzbarmachung des Gottesdienstes, etwa für moralische Appelle. Insofern ist eines unverständlich, wie nämlich eine Berufung auf Guardini als Vorreiter der Liturgiereform sachlich und inhaltlich gerechtfertigt werden kann und zu begründen ist. Nicht trotz der Liturgiereform scheinen wir – noch – vom Geist der Liturgie entfernt zu sein, vielmehr: Hat sich dieser Geist der Liturgie nicht erst im Zuge der Liturgiereform zunehmend verflüchtigt?
Die Liturgie ist sinnerfüllt und sinnvoll, jedoch keinem Zweck unterzuordnen: „Auch im Bereich des Irdischen gibt es zwei Erscheinungen, die nach der gleichen Richtung weisen: das Spiel des Kindes und das Schaffen des Künstlers. Im Spiel will das Kind nicht etwas erreichen. Es kennt keinen Zweck. (…) Das Spiel ist: zweckfrei sich auströmendes, von der eigenen Fülle Besitz ergreifendes Leben in seinem reinen Dasein.“[24] Dem Kind zur Seite tritt der Künstler: „In der Kunst sucht er die Einheit zu schaffen zwischen dem, was er will, und dem, was er hat; zwischen dem, was er soll, und was er ist; zwischen Seele drinnen und Natur draußen; zwischen Körper und Geist. Das sind die Gestalten der Kunst.
Sie haben also keinen Zweck der Belehrung, sie wollen nicht bestimmte Wahrheiten oder bestimmte Tugenden beibringen. Nie hat ein wirklicher Künstler das beabsichtigt.“[25] Also: „Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie. (…) Daß sie so streng und sorgfältig in tausend Vorschriften bestimmt, wie Worte, Gewänder, Farben, Geräte beschaffen sein sollen, solches versteht nur, wer die Kunst und das Spiel ernst zu nehmen vermag.“[26]
Dieses zuletzt angesprochene Ernstnehmen kehrt die Medaille um. Liturgisches Spiel darf nicht als Spielerei erachtet, Kunst nicht mit Ästhetizismus verwechselt oder gleichgesetzt werden. Guardini warnt scharf: „Überall sind die Schöngeister Drohnen, die am Leben schmarotzen, aber nirgends sind sie so des Zornes würdig wie im Heiligtum.
Der kümmerliche Mann, der im Hochamt nichts will, als seinem Gott den schuldigen Dienst erfüllen; das zusammengeschaffte Weib, das herkommt, um ihrer (sic!) Last ein wenig erleichtert zu werden, die vielen, die dürren Gemütes sind und von all der Schönheit nichts spüren, wie sie ringsum spricht und tönt und glänzt, sondern nur Kraft suchen für ihre tägliche Mühsal – sie alle wissen mehr vom eigentlichen Wesen der Liturgie als der Kenner, der nach der Tonfülle eines Graduales die Strenge Schönheit der Präfation genießt.“[27]
Anfrage auch an liturgischen Traditionalismus
Immer wieder sind im Gange unserer Beschäftigung mit Guardinis Erstlings- und Grundlagenwerk Vom Geist der Liturgie Zweifel und Infragestellungen eingeflochten worden, inwieweit die nachkonziliare Liturgiereform und die seither landläufige Praxis der Feier des Gottesdienstes sich auf Guardini berufen und beanspruchen können, vom Geist der Liturgie, um den er gerungen und über den er geschrieben hat, inspiriert und getragen zu sein.
Auch im soeben zitierten Passus kann man an das Expertentum der Liturgiewissenschaftler und Liturgiereformer denken. Doch viel stärker – da muß man ehrlich sein – kann man sich an so manchen Berufstraditionalisten erinnert fühlen. Beide Ausprägungen fachmännischer Kennerschaft vertreiben letztlich den Geist der Liturgie und machen ein großes Fragezeichen hinter die Liturgiefähigkeit solcher Fachleute und hinter die ideologische Instrumentalisierung, welche ebenfalls die Liturgie nur verzweckt: „Es droht die Gefahr, daß auch hier sich das Schöngeisterwesen breitmache; das erst die Liturgie gepriesen, dann Stück um Stück ihrer Kostbarkeiten ästhetisch gewürdigt und endlich die heilige Schönheit des Hauses Gottes mit feinschmeckerischer Kennerschaft genossen werde.
Bis das ‚Bethaus‘ wieder einmal, wenn auch in neuer Weise, ‚zur Räuberhöhle gemacht‘ ist.“[28] Diese Gefahr müssen jedenfalls jene traditionsorientierten Katholiken bedenken, die es akzeptieren und hingenommen haben, in der Pflege der überlieferten Römischen Liturgie bloß einer außerordentlichen Form des Gottesdienstes zu folgen, zumal es nach der Definition und Diktion Guardinis strenggenommen ausgeschlossen ist, daß außerordentliche Liturgie echt ist.
Diesem Verdacht oder dieser Vorhaltung jedenfalls setzen sich jene Katholiken nicht aus, die zwar auch an der alten Liturgie festhalten, dies aber vor allem aufgrund dogmatischer Bedenken tun und weil sie unverblümt die Rechtmäßigkeit der nachkonziliaren Liturgiereform oder zumindest der modernen Gottesdienstpraxis offen bezweifeln. Das letzte Wort sei nochmals Guardini erteilt. Er spricht es vom Dogma aus, das in der Liturgie verkörpert ist: „Die Kirche stellt die Wahrheit, das Dogma, hin als eine unbedingte, in sich ruhende Tatsache, die keiner Begründung aus dem Gebiete des Sittlichen oder gar Nützlich-Brauchbaren bedarf.“[29]
Dies ist allen bleibend aktuell mitgegeben, nicht nur im hundertsten Jahre nach der Erstauflage von Vom Geist der Liturgie, auch als Memento für Romano Guardini, dessen Todestag sich am 1. Oktober 2018 zum fünfzigsten Mal jährt. Ebenso wie im nächsten Jahr die Promulgation des neuen Missale Romanum Pauls VI.
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[1] Guardini, R., Vom Geist der Liturgie, Ostfildern und Paderborn, 242018, S. 15.
[2] Ders., a. a. O., S. 16.
[3] Ders., a. a. O., S. 16.
[4] Ders., a. a. O., S. 19.
[5] Ders., a. a. O., S. 20.
[6] Ders., a- a. O., S. 21.
[7] Vgl. ebd., S. 25.
[8] Ebd., S. 27.
[9] Ebd., S. 17.
[10] Stimmiger schiene es wohl, Guardini würde hier wiederum „Wir“ schreiben, Anm. ChMH.
[11] Guardini, R., a. a. O., S. 32, kursiv im Text. Hier trifft der Autor eine Aussage, die an die Gestalttheorie erinnert, der zufolge das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Teile.
[12] Herwegen, I., in: Guardini, R., a. a. O., S. 9-13, hier S. 10, kursiv im Text.
[13] Guardini, R., a. a. O., 34f und öfters.
[14] Vgl. Guardini, R., a. a. O., S. 39.
[15] Guardini, R., a. a. O., S. 40-42.
[16] Ders., a. a. O., S. 41, Fn. 3.
[17] Ders., ebd.
[18] Ders., a. a. O., S. 43.
[19] Ders., a. a. O., S. 53f.
[20] Ders., a. a. O., S. 52.
[21] Ders., a. a. O., S. 52f.
[22] Ders., a. a. O., S. 53.
[23] Vgl. ders., a. a. O., S. 57.
[24] Ders., a. a. O., S. 63f.
[25] Ders., a. a. O., S. 64.
[26] Ders., a. a. O., S. 65.
[27] Ders., a. a. O., S. 69.
[28] Ders., a. a. O., S. 76.
[29] Ders., a. a. O., S. 85.
Erst jetzt auf diesen dichten Guardini-Beitrag aufmerksam geworden, möchte ich an ein mehr praktisches „Anwendungsbuch“ der Liturgischen Bewegung erinnern, das Messbuch von und im Gefolge von Anselm Schott. Hier zeichne ich – mit noch drei weiteren Folgen an den bevorstehenden Samstagen den „Werdegang“ dieses Buches nach: http://www.kathnews.de/genese-des-schott-messbuches-bis-zur-liturgiekonstitution-des-zweiten-vatikanischen-konzils-1884-1963-teil-iiv.
„… selbst wenn vielleicht beispielsweise für die marianischen Hauptfeste spezifische Eigenpräfationen wünschenswert wären…“
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Nach (nicht nur) *meinem Dafürhalten* wäre es angezeigt, sechs Achtel der Marien-Feste zu tilgen — zusamt dem von unserem Papst Franziskus auf den Pfingstmontag gelegten Fest „Maria, Mutter der Kirche“.
Das ist hier von mir aber nicht angesprochen, sondern der Umstand, dass im MR1962 nur eine allgemeine Marienpräfation existiert, die nur an einer Stelle durch Nennung des Festes oder Gedächtnisses spezifiziert wird, anstelle einer Eigenpräfation zum Beispiel für den 8. Dezember oder den 15. August.
Einfach alle Präfationen des MR1970 für das MR1962 „freizugeben“, ist keine Lösung. Das hat die Kommission ED schon vor über 20 Jahren gemacht, was mW bezeichnenderweise von niemand rezipiert worden ist. Das ist auch gut so, weil bei weitem nicht alle Präfationen des MR1962 in Struktur, Diktion und theologischer Aussage den vorhandenen Präfationen des MR1962 entsprechen. Außerdem sollten keine unnötigen Kann-Bestimmungen in den alten Ritus einfließen. Wenn, dann müssten weitere Präfationen verbindlich vorgeschrieben werden. Zur Zeit etwas, wozu auch bei der Kommission ED oder der Gottesdienstkongregation die fachlich kompetenten Leute fehlen, und außerdem würden solche Eingriffe nicht auf einhellige Akzeptanz stoßen. Also besser Finger weg davon!
Weil bei weitem nicht alle Peäfationen des MR1970… muss es in dem obigen Satz zunächst heißen.
Danke für diesen ausgezeichneten Artikel zum 100. Jahrestag des Guardini-Buches. Möge bald die außerordentliche Form ordentlich werden!
Bitte, gern. Ihr zuletzt ausgesprochenes Desiderat wird schwierig, leiderçwäre dazu eine wohl weit länger zurückreichende Fehentwicklung zu korrigieren als nur die Reform Pauls VI. Und deshalb ändert man am alten Ritus momentan am besten nichts, selbst wenn vielleicht beispielsweise für die marianischen Hauptfeste spezifische Eigenpräfationen wünschenswert wären oder auch eventuell für wichtige Heiligenfeste wie etwa das gestrige.