Der Fremde ist ein junger Mann, der in den 30er Jahren im von Frankreich besetzten Algerien lebt. Er besucht die Beerdigung seiner Mutter ohne das genaue Datum ihres Todes zu kennen. Er scheint generell wenig Interesse an seiner Außenwelt zu haben und arbeitet als Büroangestellter. Fremd verhält er sich gegenüber der Welt und den Schicksalen der anderen. Mit introvertierter Distanz steht er den Geschehnissen gegenüber.
Am Tag nach der Beerdigung seiner Mutter lernt er seine Freundin Marie kennen, die auch eine Kollegin ist und beginnt direkt eine intime Beziehung. Sie will ihn heiraten und fragt ihn, ob er zustimme, worauf er nur entgegnet, dass es ihm egal sei, er sie nicht liebe aber sie trotzdem heiraten würde, da das alles völlig belanglos sei.
Als er eines Abends mit seinem Freund, einem Zuhälter, am Strand ist, erschießt er in Selbstverteidigung oder Zufall einen Araber: „Mir wurde klar, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war.“ Er schießt noch viermal auf den leblosen Körper und wird schließlich verhaftet.
Ein Buch, das die Postmoderne vordenkt
Der Fremde im gleichnamigen Roman ist in vielerlei Hinsicht ein Mann der Postmoderne. Er glaubt nicht mehr an die Trias „höher, schneller, weiter“, die Fortschrittsverheißung der Moderne. Gleichzeitig ist aber auch kein vormoderner Traditionalist, der sich religiösen oder sozialen Gefügen unterwirft. Der Fremde lebt das, was der Philosoph Jean-François Lyotard „das Ende der großen Erzählungen“ nennt. Da er stumpf und gefühlskalt wirkt, wird ihm unterstellt er habe die Seele eines Mörders und wird wegen der Tötung des Arabers zum Tode verurteilt. Als er im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet, findet er Trost in der „zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt“.
Bedürfnisse befriedigen statt Sinnfragen stellen
Man kann in der Welt des „Fremden“ Sinnfragen noch stellen, aber sie scheinen nicht mehr Bedeutung zu enthalten als die Fragen welche Farbe ein Kreis habe oder wie eine Farbe rieche. Sie sind zur Nutzlosigkeit verdammt. Als ein Priester ihn in seiner Todeszelle besucht, bäumt sich der Fremde ein einziges Mal auf und macht dem Geistlichen klar, wie leer er dessen religiöse Bekehrungsversuche findet:
„[Der Priester] schiene so gewiss zu sein, nicht wahr? Dabei wäre keine seiner Gewissheiten das Haar einer Frau wert.
Albert Camus
Was also sind die wichtigen Dinge für den Fremden? – Frauen und das Annehmen des Absurden. Er sehnt sich in der Zelle nach Marie, aber auch damit muss er lernen zu leben.
Freiheit heißt einen Sinn schaffen mit dem man leben kann
Der Roman wird dem Existenzialismus zugerechnet und genau wegen dieser philosophischen Richtung kann er lebensverändert wirken. Er zeigt die im Existenzialismus angenommene Gott- und Sinnlosigkeit auf und gibt pädagogisch zu verstehen, dass der Mensch in allem zur Freiheit verdammt ist. Zur Freiheit der Entscheidung, selbst einen kurzfristigen Sinn zu schaffen, mit dem man trotz allem Leben kann.
Es geht darum Ja zu sagen, und zwar zur Erkenntnis der „Gleichgültigkeit der Welt“: „Als ich spürte, wie ähnlich [meine Mutter] mir war, wie brüderlich letzten Endes, habe ich gefühlt, dass ich glücklich gewesen war und dass ich es noch war.“ So endet auch der Fremde im typischen Camusstil: Glück finden heißt das Absurde zu sehen und in einer Haltung der Freiheit darin zu leben. Das wird Camus in seinem Werk „Der Mythos des Sisyphos“ zum Prinzip machen.
Christus im Fremden
Aber wie der Glaubende dem Zweifel nie ganz entrinnen kann, so kann Camus dem Glauben nicht ganz entrinnen. Denn das Ende des „Fremden“ erinnert an die Kreuzigung Christi. Die einleitenden Worte des letzten Satzes: „Damit sich alles erfüllte“, im französischen Original „pour que tout soit consommé“ (damit alles vollbracht ist), sind deutlich angelehnt an die letzten Worte Jesu im Johannesevangelium: „Es ist vollbracht!“
Doch während der Fremde sich wünscht, dass am Tag seiner Hinrichtung viele Zuschauer da sein würden und ihn mit Schreien des Hasses empfangen, damit er sich weniger allein fühlt und so alles endet, beginnt in der Bibel mit dem Tod Christi eine neue Epoche der Barmherzigkeit. Diesen Sprung geht Camus jedoch nicht mehr mit. Er schreibt in einem Vorwort zu einer amerikanischen Universitätsausgabe des Romanes, dass er in der Figur des Fremden den einzigen Christus darstellen wollte, den wir verdient hätten. Gewiss hat er Recht, wenn es ums Verdienen geht. Aber die Wirklichkeit der Gnade klammert er dabei aus und sie ist es, die alles entscheidet.
[…] Albert Camus‘ Roman „Der Fremde“: „Dieses Buch hat mein Leben verändert“ […]