Am 27. Mai 1917, einem Pfingstsonntag, wurde der Kodex des Kirchenrechts durch die Konstitution Providentissima Mater Ecclesia feierlich verkündet. Was zeichnet das Gesetzbuch aus? Welche Rechte werden den Laien zugesprochen? Eine Analyse des alten Kirchenrechts nach den Canones und Lehrbüchern.
In der Konstitution Providentissima Mater Ecclesia wird die Kirche als societas perfecta beschrieben, die sich von Anfang an Recht setze. Gasparri verleiht bei seiner Ansprache der päpstlichen Überzeugung Ausdruck, „dass der neue Kodex das Studium und die Beobachtung der Kirchendisziplin und dadurch die Heilung und das ewige Heil der Seelen fördern werde.“ Benedikt XV. tröste es „dass Pius X. sich im Himmel über sein Werk freuen wird“. Der Kodex hat den Umfang eines Bürgerlichen Gesetzbuches und beinhaltet fünf Bücher.
Damit behält er die Fünfteilung der mittelalterlichen Dekretaliensammlung bei. Das Eherecht ist im CIC/1917 jedoch kein eigenes Buch mehr, sondern wurde den Sakramenten untergeordnet, wodurch der Kodex eine geistliche Ausrichtung erhält. Nach dem Juristen Ulrich Stutz macht das Gesetzbuch einen einheitlichen Eindruck und ist ein Werk des absoluten Papsttums („Wo der Papst ist, da ist die Kirche“). Der Kodex selbst ist nicht rechtsschöpferisch, da er im Grunde nichts Neues schafft, sondern die Rechtstradition der Kirche aufgreift. Neuerungen werden auf das Notwendigste beschränkt.
Die ausdrückliche Bekämpfung des Modernismus spielt im Kodex nach Stutz keine Rolle mehr. Dennoch ist der Kodex ein antimodernistisches Gesetzbuch, wenn er auch darauf verzichtet extreme antimodernistische Maßnahmen zu erwähnen. Ebenfalls werden mit dem Kodex alle nicht erwähnten Strafen ausdrücklich abgeschafft. Da der Kodex die Möglichkeit der Deutungsverschiedenheit bietet, wird nach der Veröffentlichung von Papst Benedikt XV. eine Kommission zur authentischen Interpretation unter dem Vorsitz von Gasparri ins Leben gerufen. Weitere Mitglieder sind u.a. De Lai und van Rossum. Neuerungen sind laut Stutz „schon durch den eminent konservativen Grundzug des katholischen Kirchentums ausgeschlossen.“ Der Kodex ist nach Stutz die Krone der Geschichte des Kirchenrechts.
Das erste Buch beschäftigt sich mit dem allgemeinen Teil, in dem einige Neuerungen enthalten sind. Neu am Kodex ist die nun kodifizierte Bestrebung Pius’ X., in der obersten Kirchenleitung keine reinen Diplomaten, sondern nur noch Priester zu haben. So kann nur noch der Kardinal werden, der mindestens drei Jahre Priester ist. Kardinaldiakone soll es nicht mehr geben. Auch wird der Einfluss der Laien in der Besetzung der niederen Kirchenämter mehr als bisher reduziert. Nach dem Kodex gibt es auch nur noch eine Form der Exkommunikation, nämlich die große. Die kleine Form, die nur vom Empfang der Sakramente und dem Erwerb eines Kirchenamtes auschließt, fällt weg.
Der Laie im Kirchenrecht von 1917
Das zweite Buch behandelt das Personenrecht. Hier macht Stutz klar, dass die katholische Kirche ein Kleruskirche ist in dem Sinne,
„dass nach ihrem Rechte, um das uns bei unseren Untersuchungen auschliesslich zu tun ist, die Laien mehr als Schutzgenossen und allein die Kleriker als Vollgenossen erscheinen. Die Laien bilden lediglich das zu leitende und zu lehrende Volk, das gegen gläubige Annahme der von der Kirche gelehrten Heilswahrheit und durch gehorsame Unterwerfung unter sie ihrer Heilswohltaten und des nach ihrer Lehre einzig durch sie vermittelten Heils teilhaftig werden soll. Das Recht der katholischen Kirche ist fast ausnahmslos Geistlichkeitsreicht.“
Dennoch wird den Laien in Canon 682 ein Recht zugesprochen, nämlich das Recht auf Sakramentenempfang. Im Lehrbuch des Kirchenrechts von Eduard Eichmann und Klaus Mörsdorf wird u.a. dieses Recht als Begründung herangezogen, dass der Laie in der Kirche nicht bloß Herrschaftsobjekt sei. In der Auslegung der Canones 682 und 683 werden die Laien nach Eichmann/Mörsdorf zu Rechtssubjekten:
„Sie haben vielmehr bestimmte aus der Gliedschaft folgende Rechte. Sie haben das Recht auf Führung und Leitung, auf Unterricht und Seelsorge (Predigt und Katechese, Empfang der Sakramente und Sakramentalien, Teilnahme am Gottesdienste, Fürbitten, Gnaden Ablässe), auf freien Verkehr mit den Hirten, auf Rechtsschutz, auf ein kirchliches Begräbnis.“
In der Schule, der Vermögensverwaltung und der Besetzung von Kirchenämtern wie dem Patronats- und Nominationsrecht können die Laien nach dem CIC/1917 auch kirchliche Hirtengewalt ausüben. Doch inwieweit kann man den Laien in der Kirche als Rechtssubjekt im Sinne der bürgerlichen Rechte betrachten? Es werden keine Rechte aufgeführt, die den Laien ohne Abhängigkeit vom Klerus betrachten. So urteilt auch Stutz: „Als empfangener Teil erscheinen sie [die Laien], als gebender der Klerus auch hierbei.“ Damit aber liegt der Kodex ganz auf der antimodernistischen Linie der letzten Päpste, wird dem Laien doch kein Recht gegenüber der Kirche, sondern nur in Abhängigkeit zur Kirche eingeräumt. Weiterhin werden die Laien dazu verpflichtet, „sich zum katholischen Glauben und zur Kirche zu bekennen im Denken und Leben der Kirche und ihren Dienern Gehorsam und Ehrerbietung entgegenzubringen […].“
Der Antimodernismus zeigt hier also auch eine deutlich gesellschaftlich-soziale Dimension, die im Theologischen gründen mag: Der Laie als zu heiligendes Subjekt hat keinen Rechtsanspruch auf Handlungen und Äußerungen, die der päpstlichen Art und Weise der Vermittlung des Seelenheils zuwiderlaufen.
Dies kann als Teil des pastoralistischen Kirchen- und Papstverständnisses gesehen werden, wie es bei Pius X. in den Anfangsworten der Enzyklika Pascendi deutlich wird: Aufgabe sei es, die Herde des Herrn zu weiden. Dies schließt dann Führung und Leitung ein, nicht aber ein Recht auf Freiheit davon. Eine Herde hat kein Recht gegenüber dem Hirten außer dem Recht auf Fürsorge, da die Hierarchien klar verteilt sind.
Grund- und Menschenrechte im Kodex
Im Ganzen fehlt eine konzeptionell-systematische Auflistung von Grundrechten. Als Ursachen finden sich nach Dagmar Steuer-Fliesser in der kirchenrechtlichen Literatur vor allem zwei Gründe:
Der eine liege in der katholischen Ablehnung der Freiheitsrechte durch den Syllabus; die Ablehnung wurzele darin, dass die Aufklärung eine antikirchliche Haltung eingenommen habe.
Der andere sei die beabsichtigte Systematisierung des unüberschaubar angeschwollenen Kirchenrechts nach dem Vorbild der europäischen Privatrechtskodifikation, was damit auch als Bezugsrahmen das Instrumentarium des Privat- und Prozessrechts und nicht eine Grundrechtskonzeption zur Folge habe. Allerdings gibt es vor der Annahme des Glaubens im CIC das Recht auf Ausschluss von Zwang bei der Annahme des Glaubens, das Beitrittsrecht zu Vereinigungen und das Verbot, den Gläubigen rechtliche Lasten ohne Rechtsgrundlage aufzuerlegen.
Das Recht auf Ehe ist im Kodex das einzige ausschließliche Laienrecht. Nichtkatholiken werden nicht der katholischen Eheschließungsform unterworfen. Diese Unabhängigkeit gilt seit dem Eherecht „Ne timere“ von 1907, und stellt eine Erneuerung von Pius X. dar. Allerdings sind nach dem Kodex nichtkatholische Christen, namentlich die evangelischen Christen, nach wie vor wegen Ketzerei exkommunizierte Katholiken. Jedoch haben sie den Status von tolerierten Exkommunizierten.
Getaufte Nichtkatholiken nennt der Kodex Akatholiken und deren Verbindungen Sekten. Weiterhin sollten sich Katholiken laut Canon 1258 nicht an gottesdienstlichen Veranstaltungen von Nichtkatholiken beteiligen.Wenn keine Gefahr des Glaubensabfalls drohte, konnte der Bischof jedoch von dieser Regel dispensieren. Der Toleranzstatus ermöglicht damit auch nach offiziellem Kirchenrecht den bürgerlichen Umgang mit denjenigen, die unter dem Kirchenbann stehen. Denn im eigentlichen Wesen des Bannes liegt das Verkehrsverbot, das besagt, dass Gläubige keine Gemeinschaft mit dem Gebannten haben dürfen.
Diese volle Strenge ist im Kodex nicht mehr vorhanden. Im CIC wird unterschieden zwischen einem geduldeten Gebannten, dem toleratus, und dem zu meidenden Gebannten, dem vitandus. Ein vitandus ist nach dem Kodex nur derjenige, der „durch öffentlich verkündeten Spruch des Heiligen Stuhls namentlich gebannt und in dem Spruch ausdrücklich als vitandus bezeichnet worden ist“ (Stutz). Diese Unterscheidung kann man pragmatisch wohl dadurch erklären, dass sonst kein gesellschaftliches Leben zwischen Katholiken, vor allem in Ländern mit protestantischer Mehrheit, mehr möglich ist.
Säkulare Schulen oder Schulen anderer Konfessionen darf ein Katholik nicht besuchen, da dies seinem heilsnotwendigen Glauben schaden kann. Ein Bischof kann laut Canon 1374 von dem Verbot, eine säkulare Schule zu besuchen, dispensieren, wenn eine Gefahr des Glaubensabfalls vermieden wird. Deutlich im Sinne des Antimodernismus wird, dass der Kodex statt des Selbstbestimmungsrechts das postulierte Wahrheitsrecht einfordert, also nicht das Recht als Recht der Person, sondern, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde es ausdrückt, Recht als Recht der Wahrheit Gottes definiert.
Dazu passt, dass nach dem Kodex auch die Schriften der Nichtkatholiken, die das Thema Religion behandelten, automatisch unter das kirchliche Bücherverbot fallen, wenn sie nicht die katholische Position vertreten. Katholiken sollen auch andere Religionsgemeinschaften meiden und dürfen keine öffentliche Diskussion mit ihnen führen. Stutz resümiert: „Die alte Strenge ist, wie man sieht, in der Hauptsache gewahrt.“ Zwar sei eine vornehme Zurückhaltung der Ausdrucksweise unverkennbar, doch werde auch deutlich, dass damit ein gewisser religiöser Widerstand und das Idealbild einer Art katholischen Staatskirche, die durch die Disqualifizierung der Akatholiken als geduldete Gebannte zum Vorschein kommt, im Kodex postuliert wird. Das katholische Milieu wird damit nicht nur Schicksal zufälliger historischer Ereignisse, sondern gleichsam vom Kodex zur Glaubenswahrung vorgeschrieben.
Das Verhältnis Staat-Kirche
Das Verhältnis von Staat und Kirche wird vom Kodex nicht behandelt. Der Kodex steht im streng innerkirchlichen Dienst. Nach Stutz habe die Kurie eingesehen, dass die Zeiten der mittelalterlichen Kirche und der Zweiheit von Sacerdotium und Imperium vorbei sind, und praktische Politik betrieben, ohne die Grundsätze aufzugeben. Hinter dieser Entscheidung mögen auch deutlich die Schule des Apollinare und der Einfluss von dessen Absolventen wie Gasparri und Pacelli stehen.
Auch der Pontifikatswechsel zu Benedikt XV. mag hier eine Rolle spielen, befördert er doch Gasparri und damit auch dessen abweichende Vorstellungen von Staat und Kirche in höchste Ämter. Pragmatisch kann der Grund aber auch darin liegen, dass man der Kodifizierung keine Steine in den Weg legen will und daher das Verhältnis Staat/Kirche unberührt lässt. Auch wird im dritten Canon des Kodex betont, dass alle bisherigen Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche unverändert in Kraft bleiben sollen.
Der Kodex enthält jedoch auch Machtansprüche, die aus dem Syllabus Errorum und dem Ersten Vatikanischen Konzil hervorgehen. Weiterhin betont er die Societas perfecta Lehre, die den Enzykliken Diuturnum Illud und Immortale Dei entlehnt ist. So bestimmt der Kodex in Canon 1322, dass die Kirche unabhängig von der bürgerlichen Gewalt ist und ihr das Recht und die Pflicht zusteht, den Völkern das Evangelium zu lehren. Die Völker sind demnach gehalten, die wahre Kirche Gottes anzunehmen.
Der zweite Teil verstößt damit aber „offensichtlich gegen die vom Staate geschützte Gewissens- und Glaubensfreiheit und kann daher wie bisher ignoriert werden“ (Stutz). Gleiches gilt für das Bücherverbot, „dass die autoritäre Hüterin einer autoritären Religion für sich in Anspruch nimmt.“ Alles in allem verfolgt der Kodex allerdings keine aggressive Tendenz hinsichtlich des Staates.
Von dem bisherigen kanonischen Grundverständnis ist der Kodex jedoch zu unterschieden. Das klassische kanonische Recht wie im Corpus Iuris canonici stellt ein geistliches Weltrecht dar, hingegen beschränkt sich der CIC auf den innerkirchlichen Raum. Er will und kann kein geistliches Weltrecht mehr sein. Sicher ist, so Stutz, dass er, „nur noch ein Recht derkatholischen Kirche und ihrer Lebensbezeichnungen darstellt und zwar nach dem Willen des Gesetzgebers selbst.“ Damit gibt es also auch im Kirchenrecht Neuerungen.
Literatur und Quellen:
- EICHMANN, Eduard (Bgr.), MÖRSDORF, Klaus (Bearb.), Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici. Bd. 1: Einleitung, Allgemeiner Teil und Personenrecht (Wissenschaftliche Handbibliothek 34,1) Paderborn 6. Auflage, 1949.
- GASPARRI, Pietro (Hg.), Codex Iuris Canonici Pii X Pontificis Maximi iussu digestus, Benedicti Papae XV auctoritate promulgatus, Rom 1917.
- STEUER-FLIESER, Dagmar, „Grundrechte“ im Codex Iuris Canonici von 1983 im Vergleich mit dem deutschen Grundgesetz. Eine exemplarische Untersuchung anhand der Wissen- schaftsfreiheit (Nomos Universitätsschriften Recht Bd. 33), Baden-Baden 1999.
- STUTZ, Ulrich, Der Geist des Codex iuris canonici. Eine Einführung in das auf Geheiss Papst Pius X. verfasste und von Papst Benedikt XV. erlassene Gesetzbuch der katholischen Kirche, Stuttgart 1918.
Eine sehr gute zeitgenössische Zusammenfassung der Änderungen des CIC von 1917 und vermuteter Auswirkungen bringt übrigens Friedrich Stock in „Der Katholik“ (Zeitschrift für katholische Wissenschaft und kirchliches Leben), 98. Jahrgang, 1918, Heft 1-3 – Seine zusammen knapp 56seitige Erklärung und Analyse schließt er mit dem Wunsch:
„Möge nun der Klerus sich mit dem neuen kirchlichen Gesetzbuch recht vertraut machen und dessen Bestimmungen recht beachten. Der große Pius X. gab den Befehl, den neuen Codex in Angriff zu nehmen, in das Programm des großen Papstes gliedert sich auch dieser Befehl ein. – Wenn überall die Vorschriften des neuen Gesetzbuches beachtet werden, wird ganz gewiss auch die Verwirklichung des Planes Pius X. gefördert: OMNIA INSTAURARE IN CHRISTO!“