Von David Maria Ernst, DGW-Journalistenpreisträger 2011
Anfang der 1980er-Jahre des vorigen Jahrhunderts schrieb der Ethiker Alasdair MacIntyre das bemerkenswerte Buch Der Verlust der Tugend, das gewissermaßen eine immer noch zunehmende Hinwendung zur klassischen Tugendethik einleitete. In diesem Buch stellte er ein Versagen der neuzeitlichen, näherhin der aufklärerischen Bemühungen fest, eine Ethik zu entwerfen, die von einer Teleologie (Lehre von den Zielen und Zwecken) gänzlich frei ist und sich auch nicht auf irgendeine höhere Autorität als den Menschen stützt. Im Folgenden möchte ich versuchen zu analysieren, warum es zu dieser Ablehnung gekommen ist und was die Folgen davon sind. Anschließend soll auch ein Blick auf die klassische Ethik von Aristoteles und Thomas von Aquin geworfen werden. Besonderes Augenmerk wird auf die Wichtigkeit der Naturerkenntnis in der Ethik, die vor allem eine Erkenntnis der Ziele und Zwecke ist, gelegt. Zum Abschluss wird versucht, eine kurze Antwort auf die Frage zu geben, warum wir letztlich moralisch handeln sollen.
Leider kann hier aufgrund des beschränkten Rahmens dieses wichtige und interessante Thema nur in einer beinahe sträflichen Kürze behandelt werden. Nichtsdestotrotz ist es ein lohnendes Unterfangen, zumindest einen Überblick zu geben.
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Die grundlegende Stoßrichtung der Aufklärung (grob gesprochen ist das die Bewegung rund um die Französische Revolution) ist die entschiedene Abwendung von jeglicher göttlichen oder höheren Autorität um der Emanzipierung des Menschen willen. Zwar kennt die Aufklärung einen Schöpfergott, aber außer dem Schöpfungsakt wird diesem Gott keinerlei Funktion zuerkannt.[1] Der Mensch mit seiner Vernunft genügt sich selbst. Er braucht keinen Gott und keine Transzendenz (das, was diese Welt überschreitet) mehr. Im Bereich des Glaubens hat dies zur Folge, dass es keine Offenbarung geben kann und somit auch keine Dogmen, denen man zustimmen müsste, ohne sie restlos zu begreifen. Im Bereich der Ethik aber, die sich – auch zur Zeit der Scholastik – nicht auf die Offenbarung stützt[2], heißt das, dass die Gründung der Moral auf eine höhere Autorität wegfällt. Da die Metaphysik (Lehre von den letzten Gründen und Zusammenhängen) nicht mehr als Fundament taugt, wird die Morallehre immer weiter von ihr losgekoppelt. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass die Letztbegründung, man müsse sittlich handeln, weil Gott es so will, nicht mehr zulässig ist.
Ein bedeutender Vertreter einer solchen modernen Ethik, der gerade im deutschsprachigen Raum (leider) immer noch sehr maßgeblich ist, ist Immanuel Kant (1724–1804).[3] Kant versuchte eine Morallehre zu entwerfen, die nicht auf irgendeine transzendente Autorität oder auf eine vorgängige Natur zurückgreifen muss, sondern vollständig ein Produkt des Menschen ist. Als Vertreter der Aufklärung, der somit fest von der Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft überzeugt ist, muss für ihn die Begründung und Gültigkeit der Moral allein in der Vernunft liegen. Kant will damit umgehen und leugnet somit, dass der Mensch von einer höheren Autorität abhängig ist. Er verlegt den Ursprung des Rechtes in den Menschen. Der Mensch gibt sich demnach selbst das Recht und empfängt es nicht mehr von einer anderen Instanz. Würden nämlich, so Kant, das Sittengesetz bzw. die moralischen Regeln von Gott oder anderswoher stammen, wäre der Mensch nicht mehr selbstbestimmt (autonom) sondern fremdbestimmt (heteronom). Letzteres ließe sich mit dem Streben der Aufklärung nach Unabhängigkeit von allen Autoritäten nicht vereinbaren.
Was aber ist die Konsequenz, wenn man eine höhere Autorität zur Letztbegründung der Moral ausschließt? Die erste Folge davon war, dass man sich nicht mehr einig war, wie denn nun die Geltung der Moral zu begründen sei. Man war sich vielleicht noch einig, dass man moralisch handeln solle, aber nicht mehr warum. Entweder gab man überhaupt keine Letztbegründung (ähnlich wie auch Kant nicht die Würde der Person begründete) oder nur unbefriedigende Antworten. Wenn Menschen nicht wissen, warum sie letztlich sittlich gut handeln sollen, folgt bald der nächste Schritt, dass sie nicht mehr wissen, wie sie moralisch handeln sollen, was also konkret moralisch gut und was schlecht ist. Die Moral wird dann an die momentanen Bedürfnisse angepasst, was eine der vielen Formen ist, die Moral aufzugeben. Das 20. und leider auch das 21. Jahrhundert sind traurige Beispiele für eine angepasste und relativistische Ethik: eine Vielzahl von Ideologien mit je ihren eigenen Moralvorstellungen, die einzig das gemeinsam haben, dass sie Überkommenes und die Verantwortung gegenüber einer wirklich höheren Instanz ablehnen.
Der entscheidende Schritt von Kant und seinesgleichen war, dass sie sich gegen das Streben nach Glück und seine Bedingungen, es zu erreichen, wandten. Sie alle zweifelten daran, dass das naturhafte Streben nach Glück im Menschen geeignet sei, als ein Prinzip der Ethik zu dienen. Sie dachten, da die Menschen das Glück auf verschiedene Arten verwirklichen wollen – in der Suche von Sinnlichkeit, Reichtum, Ehre und vielem mehr – sei es nicht möglich, die Ethik auf das Streben nach Glück aufzubauen.
Aristoteles, der philosophische Fels, und das Streben nach Glück
Hier nähern wir uns langsam dem springenden Punkt. Auch Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwarf eine Ethik, die spätestens seit dem Mittelalter absolut grundlegend sein würde. Er kannte das Phänomen, dass viele Menschen ihr Glück in der Lust oder in der Ehre suchen, ließ sich dadurch aber nicht beirren. Er war der Meinung, dass diese Menschen fehlgeleitet seien. Das Glück, so Aristoteles, müsse nämlich etwas sein, das dem Menschen als Menschen entspricht. Ein Leben in Lust und Sinnesfreuden kommt der Existenz der Tiere gleich und kann offensichtlich nicht dem höher begabten Menschen entsprechen. Auch ein Leben in Ehren kann nicht abschließend beglückend sein, denn der Geehrte hängt ja mehr von den ihn Ehrenden ab, als von sich selbst und seinen ehrenwerten Eigenschaften.[4] Das Gute, das wirklich glücklich macht, muss abschließenden Charakter haben und nicht, wie so viele andere Güter, nur um etwas anderem willen erstrebt werden. Das Gute muss so beschaffen sein, dass sein Besitz „das Leben wählenswert macht und ihm nichts fehlen lässt“.[5] Wenn also die Befriedigung der Lust oder des Ehrverlangens nicht glücklich macht, da es nicht abschließenden Charakter hat,[6] worin soll nach Aristoteles dann das Glück bestehen?
Um herauszufinden, was dem Menschen als Menschen entspricht, untersuchte Aristoteles seine Funktion, oder anders ausgedrückt, seine eigentümliche Leistung. Die Funktion der Flötenspieler und Schreiner beispielsweise ist es, Flöte zu spielen und Kästen herzustellen. Gut werden sie dann genannt, wenn sie ihre Funktion auf gute Weise erfüllen, also gut Flöte spielen und gute Kästen herstellen. Was aber ist die Funktion des Menschen als solchen? Besteht sie darin, dass er wächst und gedeiht? Aristoteles verneint dies, denn diese Funktion teilt der Mensch mit den Pflanzen – sie ist nicht spezifisch menschlich. Auch das sinnliche Wahrnehmen besitzen ebenfalls die Tiere. Nein, der Mensch zeichnet sich deutlich durch die Vernunft aus und diese Funktion hebt ihn über alle anderen Geschöpfe hinaus, sie ist es, die ihn als Menschen auszeichnet. Seine Gutheit als Mensch muss also in der guten Betätigung dieser Fähigkeit liegen, weswegen auch derjenige ein guter Mensch genannt wird, der seine Vernunft richtig gebraucht und ihr gemäß lebt.
Die Vollkommenheit eines jeden Wesens besteht in der Erlangung seines Zieles, in der Erfüllung seines Zweckes. Vollkommen nennt man ein Wesen, wenn es alles Gute erreicht hat. Der Zustand des Glückes besteht gerade in der Erlangung dieser Vollkommenheit.[7] Für den Menschen heißt dies, dass sein Glück in der Betätigung der menschlichen Gutheit und somit im guten Gebrauch seiner Vernunft liegt. Konkreter ausgedrückt besteht sein Glück unter dem Gesichtspunkt der Ethik – also ohne die Erkenntnisse aus der Offenbarung – in der Führung eines tugendhaften Lebens, d. h. wenn der Mensch dauerhaft gerecht, tapfer, maßvoll und klug in allen seinen Handlungen ist. Dies ist die Entfaltung der menschlichen Gutheit, die dauerhafte Verwirklichung des vernunftgemäßen Lebens.[8] Nur ein solches Leben steht im Einklang mit der menschlichen Natur und den Gesetzmäßigkeiten der sozialen Gemeinschaft. Das Unglück hingegen ist das Verfehlen dieses von der Natur vorgegebenen Zieles. Das heißt, Menschen sind dann unglücklich, wenn sie kein tugendhaftes Leben, sondern bloß eines in Sinnesfreuden und Ehren führen.
Die moderne Aversion gegen den Zweck
Es ist äußerst wichtig, sich bewusst zu machen, dass Aristoteles – und natürlich das gesamte Mittelalter – die Funktion des Menschen untersucht hatte, um zu bestimmen, wie der Mensch sein soll. Er untersuchte seine Natur, das Wesen, wie er beschaffen ist, und schloss dann darauf, wie der Mensch sein soll. Er betrachtete das Ziel bzw. den Zweck des Menschen, um zu bestimmen, worin seine Vollkommenheit und somit sein Glück liegt. Die Neuzeit leugnet gerade diese Möglichkeit, von der Verfassung bzw. der Natur des Menschen auf dasjenige zu schließen, wie er sein soll. Mit anderen Worten leugnen die meisten modernen Philosophen die Möglichkeit, von Aussagen der Realität auf die Qualität der Moral zu schließen.[9]
Der tiefere Grund dafür liegt darin, dass sie die Zielhaftigkeit des Menschen und überhaupt der ganzen Natur leugnen. Sie lehnen die Teleologie, also die Lehre von den Zielen und Zwecken in den Dingen ab (nicht zu verwechseln mit der Theologie, der Lehre von Gott und der Offenbarung). Es ist für sie nicht zulässig, anzunehmen, dass es in der Natur ein Zielstreben gibt. Die Teleologie sei nur ein Produkt des betrachtenden Menschen, der die Zielhaftigkeit in die Natur hineininterpretiere. In Wirklichkeit habe die Natur kein Ziel, sondern wirke, vereinfacht ausgedrückt, einfach nur so drauflos. Man dürfe daher aus Erkenntnissen, wie der Mensch ist, nicht darauf schließen, wie er sein soll. Weil es kein Ziel und keinen Zweck im Menschen gibt, könne man auch nicht sagen, welchem Ziel er entsprechen muss – man könne also nichts darüber aussagen, wie er sein soll. Die Sittlichkeit hat ihrer Meinung nach nichts mit dem Wesen des Menschen zu tun, sondern ist nur das Produkt des Willens und der Vernunft, die sich selbst die moralischen Regeln geben. Wie die Philosophiegeschichte lehrt, ist infolgedessen der Maßstab für die Regeln dann aber auch Legion: Widerspruchsfreiheit (Kant), der allgemeine Wille (Rousseau), das staatliche Gesetz (Rechtspositivismus), der eigene Wille (Egoismus) usw. Je nach persönlichem oder sozialem Befinden wird man dem einen oder anderen Maßstab zugetan sein.
Die klassischen Philosophen (Aristoteles, Thomas v. Aquin u. a.) waren sich hingegen immer einig, warum wir moralisch handeln sollen. Für die Erklärung dieser Frage unterschied die klassische Philosophie zwei Ebenen. Die eine Ebene betrifft die unmittelbare, ethische Begründung: Man soll moralisch handeln, weil es der Natur der Sache entspricht, z. B., dass man seine Mitmenschen nicht unnötig verletzen soll, weil es ihnen Schmerz bereitet. Die andere ist die metaphysische Ebene der Letztbegründung: Schließlich will Gott, dass wir moralisch handeln. Diese zweifache Erklärung findet sich auch im Alltag wieder. Wenn Kinder nach dem Sinn von moralischen Regeln fragen, gibt man ihnen zunächst den unmittelbaren Sachgrund an, der in der natürlichen Ordnung zu finden ist: Du darfst deine Geschwister nicht schlagen, weil es ihnen wehtut, und unschuldigen empfindsamen Wesen fügt man keine Schmerzen zu. Fragen Kinder dann immer noch weiter, sind sie entweder trotzig, worauf man ihnen „es ist halt so“ antwortet, oder sie sind wirklich aufgeweckt und interessiert – dann setzt man eine Ebene höher an: weil Gott es in seiner Weisheit so festgelegt hat und weil er will, dass man seinen Gesetzen folgt.
An der eben genannten zweifachen Erklärung wird Folgendes sichtbar: Für das unmittelbare Handeln ist der Rückgriff auf Gott nicht notwendig, da er nicht handlungsleitend ist. Er kann zwar eine Motivationsquelle dafür sein, dass man moralisch handelt, aber er sagt nichts darüber aus, was die moralischen Regeln sind. Wir haben außerhalb der Offenbarung keinen unmittelbaren Zugang zum Willen Gottes. Uns wird die Kenntnis dieses Willens zunächst nur über die Ordnung der Natur vermittelt.
Wenn wir wissen wollen, wie wir konkret moralisch richtig zu handeln haben, blicken wir auf die Ordnung der Natur. Sie allein ist der unmittelbare Maßstab für das moralische Handeln und von dieser Ordnung empfangen die moralischen Regeln auch ihre Sinnhaftigkeit. Das wird deutlich sichtbar am Konzept der Tugend der Klugheit. Wie Thomas v. Aquin ausdrücklich sagt, empfängt die Klugheit ihr Richtmaß von den Dingen selbst,[10] das sie dann den anderen moralischen Tugenden mitteilt. Die Wirklichkeit ist die nächste und unmittelbare Instanz, an dem moralisches Handeln gemessen wird. Aus diesem Grund sind auch die Heiden, die die Offenbarung nicht besitzen, fähig, über sittlich Gut und Schlecht zu urteilen. Dennoch hängen beide Ebenen, also die Ebene der unmittelbaren Normbegründung und die Ebene der Letztbegründung, eng voneinander ab. Lehnt man eine dieser beiden Begründungsebenen ab, verliert auch die andere letztlich an Einsichtigkeit.
Die sittliche Erkenntnis hängt wesentlich vom richtigen Erfassen des Zieles bzw. des Zweckes innerhalb der natürlichen Ordnung ab. Moralische Handlungen müssen an der Wirklichkeit ausgerichtet und ihr angepasst werden. Damit dies geschehen kann, muss zuvor erfasst werden, wie sich die Wirklichkeit verhält, was es mit ihr auf sich hat, was der Sinn der natürlichen Einrichtungen ist. Nur durch das Erfassen des ihr innewohnenden Zweckes gibt es eine derartige Erkenntnis. Ohne sie kann nicht hinreichend auf die Bedingungen der Realität Rücksicht genommen werden. Am Beispiel des Schmerzes scheint das trivial zu sein: Wir dürfen Menschen nicht unnötigerweise Schmerz zufügen, weil es gewissermaßen ein Ziel empfindsamer Wesen ist, Schmerzen zu vermeiden. Es sind sich alle darüber einig, dass unnötigerweise Schmerz zufügen unmoralisch ist. Genauso wissen wir, dass dies keine Sache der Übereinkunft, sondern der Natur empfindender Wesen ist.
Was im Falle des Schmerzes trivial aussieht, erweist sich auf anderem Gebiet alles andere als selbstverständlich. Dort, wo es dem persönlichen Wollen der Menschen unangenehm und unliebsam entgegensteht, versagt die Zielerkenntnis schnell und eklatant. Kein Wunder also, dass gerade die Sexualmoral heute am meisten von Verirrungen betroffen ist. Hier werden die Zwecke kurzerhand den menschlichen Wünschen unterworfen und der natürliche und erste Zweck anderen Zwecken untergeordnet.
Warum sollen wir letztlich moralisch handeln?
Aristoteles und Thomas v. Aquin waren der Meinung, wie oben bereits beschrieben, dass das Glück des Menschen in der Betätigung der menschlichen Gutheit, d. h. in einem tugendhaften Leben besteht. Was aber verpflichtet uns dazu, unser Glück gerade darin zu suchen? Sind wir etwa nicht frei, unser Glück in dem zu suchen, was uns gut dünkt?
Wiederum ist eine zweistufige Antwort möglich: Zum einen ist die Erkenntnis, wie schon dargelegt wurde, dass wir unser Glück nur in einem tugendhaften Leben finden, eine Sache der Naturerkenntnis. Die Bedingungen, wie wir das Glück erlangen können, ergeben sich aus der menschlichen Natur, so wie der Mensch beschaffen ist. Darin sind wir nicht frei. Wir können nicht entscheiden, worin die Bedingungen für unser Glück liegen. Sie liegen von Natur aus fest. Wir können sie nicht ändern, sondern nur frei akzeptieren. Frei sein bedeutet nämlich nicht, willkürlich sein Glück in irgendwelchen Gütern zu suchen, sondern nur, durch vernünftige Einsicht in die Sache dem Guten zu folgen. Die Freiheit des Menschen ist nur die Art und Weise, wie der Mensch seinem Ziel entgegengeht. Dinge werden durch die Naturgesetze zu ihrer Vollkommenheit gebracht, der Mensch aber durch die Freiheit, durch ein freies „Ja!“ zu den Bedingungen seiner Vollendung.
Zum anderen kann die Frage, was uns verpflichtet, der Natur zu folgen, auf die Letztbegründung abzielen. Sie kann Ausdruck einer Reflexion der Moralität sein und durchaus ihre Berechtigung haben. Die Antwort kann dann nur lauten, dass uns derselbe Grund dazu verpflichtet, unserer Natur zu entsprechen, der uns überhaupt erst ins Dasein gerufen hat. Es ist die Liebe Gottes, die Liebe des Urgrundes, der in wohlwollender Absicht alles ins Dasein gerufen hat. Da es die Liebe ist, die Gott zur Schöpfung bewog, ist auch seine Weisheit, durch die er alles geordnet hat, von der Liebe durchformt. Der Sinn und Zweck, der in der Schöpfung vorhanden ist, ist daher ein guter und wohlwollender Zweck. Es kann nur Unordnung, Unvollkommenheit und Unglück bedeuten, wenn die Dinge ihren Zweck nicht erreichen. Das gilt am meisten für den Menschen. Er hat zwar die Möglichkeit – nicht die Freiheit –, unsittlich und dadurch dem Plan Gottes zuwiderzuhandeln, aber er muss sich bewusst sein, dass ihn so letztlich nur das Unglück erwartet: das Verfehlen seines von Gott aus angelegten Zieles. Das trifft sowohl auf das rein natürlich-moralische Leben ohne die Offenbarung zu als auch und vor allem auf das vollkommene moralische Leben, das um seine Hinordnung auf die Anschauung Gottes weiß. Das Verfehlen dieser Ziele ist genau die Folge der Sünde.
Durch ein sittlich gutes Leben, das der Ergänzung und eigentlichen Vollendung durch die Offenbarung bedarf, da durch sie die wahre Letztbestimmung erfahren wird, erfüllen wir ein Zweifaches: Durch das Streben nach Glück lieben wir erstens uns selber, weil wir unserer Natur entsprechen und ihr gemäß leben. Zweitens aber lieben wir vor allem Gott durch die Erfüllung der Sittlichkeit, weil wir seine Bedingungen zu unserem Glück akzeptieren. Erinnert das nicht an das zweifache Liebesgebot Christi: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst?[11]
Gott hat uns zuerst geliebt, indem er uns geschaffen und auf ein unbegreiflich erhabenes Ziel, die Anschauung Gottes, hingeordnet hat. Es ist ein Angebot aus Liebe. Liebe verlangt Gegenliebe, drängt zu einer Entscheidung. Neutralität ist hier nicht möglich. Sie verlangt eine Antwort: für oder gegen die Liebe.
Die Menschen haben die Freiheit, dem liebenden Angebot Gottes zuzustimmen, nicht es abzulehnen. Die Sittlichkeit ist die rechte Antwort des Menschen auf dieses Angebot. Sie ist letztlich die Anerkennung der durch die Liebe bewegten Weisheit Gottes. Sie ist die Antwort des Menschen: „Es ist gut, wie Du alles geordnet hast!“
[1] Diese Position nennt man Deismus.
[2] Anders verhält es sich mit der Moraltheologie, die die natürlichen Einsichten im Bereich der Sittlichkeit mit den Erkenntnissen aus der Offenbarung verbindet. Dadurch erfolgt sowohl eine inhaltliche Erweiterung (z. B. das Gebot der Sonntagsruhe) als auch eine methodische Erweiterung, nämlich die zweifelsfreie Bestätigung einiger schon natürlicherweise erkannter Gebote (wie z. B. das Ehescheidungsverbot).
[3] Von ihm stammt der bekannte Ausspruch: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant, Berlinische Monatsschrift, Dez. 1784).
[4] Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 3.
[5] Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 5.
[6] Thomas v. Aquin behandelt diese Fragen in der Summa theologiae, I-II, quaestio 2.
[7] Vgl. Thomas v. Aquin, Summa theologiae, I-II, quaestio 3, articulus 2, ad 2.
[8] Erst durch die Offenbarung weiß der Mensch um das Letztziel der Anschauung Gottes. Dieses Ziel ist aber übernatürlich, weshalb es nicht in den Bereich der Ethik fällt.
[9] Am bekanntesten ist das Hume’sche Gesetz (von David Hume, 1711–1776), das besagt, dass vom Sein nicht auf das Sollen geschlossen werden dürfe.
[10] Vgl. Thomas v. Aquin, Summa theologiae, I-II, quaestio 64, articulus 3, ad 2.
[11] Vgl. Mt 22, 37–39.