Ein Kommentar von Monsignore Florian Kolfhaus
(CNA Deutsch) Traditionellerweise werden am 5. Fastensonntag, an dem wir in die unmittelbar dem Osterfest vorausgehende Passionszeit eintreten, die Kreuze in den Kirchen verhängt. Am Karfreitag, währende der feierlichen Liturgie des Leidens und Sterbens Christi, enthüllt der Priester das Kruzifix, um es den Gläubigen zu zeigen und zur Anbetung einzuladen. Dabei singt er dreimal: „Ecce lignum crucis, in quo pependit salus mundi!“ – „Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen.“
Es ist das dramatische Vorspiel zur feierlichen Liturgie der Osternacht, wenn der Priester mit dem dreimaligen Ruf „Lumen Christi“ – „Das Licht Christi“ das Feuer der Osterkerze an die Gläubigen weiterreicht. Es ist die leuchtende Flamme der Liebe, die sich am Holz des Kreuzes entzündet hat und Christi Leib zum vollkommenen „holocaustum„, zum wahren Brandopfer für das Heil der Welt, gemacht hat.
Liturgische Verpackungskunst
Zwei Wochen, beginnend mit dem heutigen Tag, bleibt das Kreuz verhüllt, und wir sehen nicht mehr den gekreuzigten Herrn, der sterbend die Arme ausbreitet, um die ganze Welt zu umfangen. Wir kommen an diesem Sonntag zur Kirche, weil wir – wie in jeder hl. Messe- Jesus begegnen möchte und die Liturgie „versteckt“ sein Bild vor uns. Noch bevor der weltbekannte bulgarische Künstler Christo (mit vollem Namen: Christo WladimirowJawaschew) auf beeindruckende Weise den Berliner Reichstag in Folie hüllte, wusste die Kirche, dass das, was durch einen Schleier den Augen verborgen bleibt, an Bedeutung und Beachtung gewinnt. In jeder hl. Messe bleibt der Kelch zunächst mit einem Velum bedeckt – nicht um ihn zu verstecken, sondern im Moment seiner „Enthüllung“ auf den Beginn eucharistischen Opferung, dem Höhepunkt der Feier, hinzuweisen. Bis heute ist in der byzantinischen Liturgie durch die Ikonostase den Gläubigen der direkte Blick auf den Altar und das an ihm vollzogene Geschehen verwehrt. Gerade dadurch aber – wie die Kunstwerke Christos es in einer säkularen Welt deutlich machen – fordert das „Verhüllte“ umso größere Beachtung und offenbart, auf paradoxe Weise, dem Betrachter seinen wahren Wert der sich hinter dem Schleier verbirgt.
„Wir möchten Jesus sehen!“
Und doch: „Wir möchten Jesus sehen!“. Wenn die Sorgen des Alltags oder seine tumben Gewohnheiten unseren Blick für den Herrn trüben, dann wollen wir ihn doch in der Kirche begegnen, wo er – so glauben wir – im Sakrament der Eucharistie wahrhaft gegenwärtig ist. Wir wollen den sehen, der für uns die Arme ausbreitet und ein immer offenes Herz hat. Dieses „Bild der Barmherzigkeit“ aber ist heute und für die kommenden Tage verhüllt. Wir starren auf violette und schwarze Tücher, ohne auf den blicken zu können, von dem wir Hilfe und Heil erhoffen. „Wir möchten Jesus sehen!“ (Joh 12, 21). Das ist die Bitte einiger Griechen, die dem Herrn begegnen möchten; die sich wünschen, dass die, die ihn kennen, den Vorhang ihrer Unkenntnis wegziehen und den Blick auf den Messias freigeben. Heute wird das Kreuz verhüllt, und gerade deshalb drängt sich jedem Kirchgänger der Wunsch dieser griechischen Männer auf die Lippen: „Wir wollen Jesus sehen!“. Genau das ist das Ziel der „liturgischen Pädagogik“. Das Zeichen der verschleierten Kruzifixe soll in uns das Verlangen wecken, Jesus zu sehen und sein Bild vor Augen zu haben. Das verhüllte Kreuz will uns daran erinnern, dass es – noch vor all den vielen Wünschen, Bitten, Sehnsüchten und Träumen unseres Lebens – darum geht, Jesus zu kennen.
Den Augen verborgen, dem Herzen sichtbar
Die griechischen Pilger sind zu den Aposteln gegangen mit der Bitte, ihnen Christus zu zeigen und sie dem Herrn vorzustellen. Dieser Dienst der Jünger lebt heute in der Kirche fort. Sie ist es, die uns zu Jesus führt und ihn uns schauen lässt. In sinnfälliger Weise geschieht das in der Liturgie. In heiligen Zeichen schauen wir den Herrn. Hierbei geht es jedoch nicht nur um würdiges Schauspiel, in dem Symbole und Worte uns auf die Geheimnisse des Glaubens verweisen, sondern um das Gegenwärtigwerden des Herrn selbst unter uns. Das, was der Priester am Karfreitag tut, wenn der den Gläubigen das Kreuz zeigt, indem er es feierlich enthüllt und ausruft, dass daran das Heil der Welt gehangen, vollzieht sich in jeder heiligen Messe auf tiefere und innigere Weise. Der Leib Christi, der dem Volk Gottes vor der heiligen Kommunion gezeigt wird, ist das Lamm Gottes, das am Kreuz gehangen und unsere Sünden hinweggenommen hat. Die Hostie ist der unter dem Schleier des Brotes verhüllte Herr, das Heil der Welt; Jesus, den wir im Geheimnis der Eucharistie schauen und anbeten.
Heiliges Versteckspiel
Wenn wir uns heute also das Wort der griechischen Pilger zu eigen machen und wie sie bitten „Wir möchten Jesus sehen!“ so werden wir von der Kirche zum Herrn geführt, indem sie – am heutigen Passionssonntag – durch das Zeichen der verhüllten Kreuze zu uns spricht. Gott will gesucht und begehrt werden. Er ist den oberflächlichen Blicken verborgen, aber doch immer gegenwärtig. Sein Bild ist unseren leiblichen Augen genommen, damit wir umso sehnsüchtiger mit denen unseres Herzens nach ihm Ausschau halten. Die Liturgie dieses Sonntags und des kommenden Karfreitags ist ein „heiliges Versteckspiel“, das seine Gewinner mit dem Kuss des Kreuzes „belohnt“. Diese Zeichen verweisen wiederum auf das große Geheimnis der verborgenen Gegenwart Christi mitten unter uns. Jesus – das Heil der Welt für uns am Kreuz gehangen – ist verborgen im wunderbaren Sakrament der Eucharistie alle Tage des Jahres bei uns.
Im Heiland das Heil finden
Jesus – der Name den der Engel dem heiligen Josef im Traum geoffenbart hat – bedeutet „Gott rettet“. Vor diesem Hintergrund wird die Bitte der Griechen zu einem Gebet um Erlösung: „Wir wollen Gott sehen, der uns rettet!“ Dieser Gott, der gekommen ist, um Juden und Heiden zu retten, ist Jesus Christus. Heute beten wir mit den Griechen „Wir möchten Jesus sehen!“ In zwei Wochen, am Karfreitag, wird er uns gezeigt werden, wenn der Priester feierlich das Kreuz enthüllt: „Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen!“ Das Heil, das Christus schenkt, hat er am Kreuz gewirkt. Wenn wir also auf den gekreuzigten Herrn blicken, so sehen wir Jesus, Gott, der uns rettet, durch seinen Tod, der die Sünden der Welt hinwegnimmt. Das Wort Jesu vom Weizenkorn, das Sterben muss, mit dem er auf die Bitte der Jünger, sich den griechischen Pilgern zu zeigen, antwortet, verweist auf diese Wahrheit: Am Kreuz, in jener Stunde der Verherrlichung des Menschensohnes, in der er alle an sich ziehen wird, ist der Moment, in dem Juden und Heiden, alle Menschen, auf den blicken werden, den sie durchbohrt haben; den Heiland, das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt.
Wenn die Schleier fallen…
Für uns – 2000 Jahre nach dem irdischen Leben Christi – wird das Kreuzesopfer des Herrn in der heiligen Messe gegenwärtig. Das Kreuz ist aufgerichtet auf unseren Altären – heute am Passionssonntag sehen wir die verhüllten Kruzifixe als Bild dafür, dass jedesmal, wenn das eucharistische Opfer gefeiert wird, der Gekreuzigte, verborgen unter dem geheimnisvollen Schleier der Gestalten von Brot und Wein, in unserer Mitte ist. „Wir wollen Jesus sehen“ Diese Bitte tragen wir zeit unseres Lebens im Herzen, bis wir Ihn eines Tages im Himmel von Angesicht zu Angesicht schauen dürfen. Doch schon in diesem Leben können wir auf ihn blicken, der im Geheimnis der Eucharistie wahrhaft gegenwärtig ist, und uns im in diesem Sakrament einen Vorgeschmack auf jene selige Schau gibt, die um die wir mit den Worten des hl. Thomas von Aquin im Gesang des Tantum ergo bitten:
„JESUS, DEN VERBORGEN, JETZT MEIN AUGE SIEHT, STILLE MEIN VERLANGEN, DAS MICH HEISS DURCHGLÜHT:
LASS DIE SCHLEIER FALLEN EINST IN DEINEM LICHT, DASS ICH SELIG SCHAUE, HERR, DEIN ANGESICHT.„