Von Sascha Vetterle
Selbstbestimmung ist der große Popanz, der in diesen Tagen durch die Straßen der Welt getragen wird. Seit dem 1. August nein, nicht dem 1. April – kann man sein Geschlecht genauso einfach ändern wie die Wohnadresse, das heißt jedenfalls von Rechts wegen. Ebenfalls im Namen der Selbstbestimmung soll, wenn es nach dem Willen mancher Koalitionäre geht, die Entrechtung Ungeborener auf die Spitze getrieben und Abtreibung, die vorgeburtliche Kindstötung, als Straftatbestand abgeschafft werden. All dies verdanken wir einem falschen, ja einem absurden Freiheitsbegriff, den Papst Leo XIII. bereits 1888 in seiner Enzyklika Libertas praestantissimum in großer Hellsicht und aller Deutlichkeit verurteilt hat.
In dieser Enzyklika stellt Leo XIII. eine wahre und eine falsche Freiheit, den Freiheitsbegriff der katholischen Tradition und jenen modernen, des Liberalismus einander gegenüber. Erstere gründet in der geistigen, personalen Natur des Menschen. Diese befähigt den Menschen dazu, sich über die körperliche Welt zu erheben, ihre Kontingenz, das heißt Nicht-Notwendigkeit, zu durchschauen, in ihr „frei zu wählen, was ihm gefällt“ (Libertas praesentissimum 3) und auch „Zweckdienliches zu wählen“ (Libertas praesentissimum 5). Bei der Wahl der Güter ist der Wille jedoch nicht seiner eigenen Willkür – und damit letztlich seinen unrationalen Seelenkräften – ausgeliefert, sondern wird bewegt durch den Verstand, der ihm die jeweiligen Güter als solche präsentiert (vgl. ebd.).
Dieser Verstand ist freilich unvollkommen, weshalb es vorkommen kann und in der Tat geschieht dies recht oft, dass er dem freien Willen ein nur scheinbares Gut als erstrebenswert vorlegt. Ein so in die Irre geführter Wille ist jedoch nach der Lehre Leos XIII. in seiner Freiheit eingeschränkt. Denn zwar wählt er frei dieses scheinbare Gut, jedoch nur weil ihm dessen wahres Wesen verborgen ist. Wäre dem nicht so, würde er es nicht wählen. Es ist eine unvollkommene Freiheit infolge einer unvollkommenen Vernunft.
Die wahre Freiheit des Menschen besteht also darin, das wahrhaft Gute zu wählen, eben darum, weil es als das wahrhaft Gute erkannt wurde. Man könnte also sagen, die wahre Emanzipation besteht in der Befreiung hierzu, wie auch Christus erklärt: „Die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh. 8,32).
Die falsche Freiheit des Liberalismus besteht demgegenüber in der Autonomie, die kein höheres Gesetz als den je eigenen Willen gelten lässt und folglich nicht wählt, was vom Verstand als Gut erkannt wurde, sondern das, wonach einem gerade ist – und im Anschluss daran dann die rechtfertigenden Gründe sucht. Ein auf dieser Weise korrumpierter Verstand wird dabei von Mal zu Mal erfinderischer zu Werke gehen, wie wir sehr gut im akademischen und medialen Bereich beobachten können. Diese vermeintliche Freiheit ist in Wahrheit lediglich Zügellosigkeit, welche die Grundlagen der wahren Freiheit – ein auf die Wahrheit ausgerichteter Verstand – zerstört und den Willen an Lüge und Irrtum kettet.
Die Konsequenzen können wir anhand der eingangs genannten Beispiele beobachten. Im ersten Fall wird die jeweilige Geschlechtszugehörigkeit vom subjektiven Empfinden abhängig gemacht, vollkommen unabhängig von den objektiv feststellbaren biologischen Gegebenheiten. Im zweiten Fall wird die Wahrheit verleugnet, dass Abtreibung immer ein einzigartiges menschliches Wesen mit einer unsterblichen Seele und einer ebensolchen Bestimmung tötet. Gerade das zweite Beispiel zeigt aber, dass Freiheit ohne Rückbindung an die Wahrheit, ohne Rückbindung an das moralische Gesetz immer das Recht des Stärkeren und damit im Letzten eine Herrschaft der Gewalt bedeutet. Eine Befreiung hiervon bietet eine Rückbesinnung auf die Freiheits-Lehre des prophetischen Papstes aus Carpineto Romano.
Der Autor ist Leiter des Instituts für ganzheitliche Ökologie (IgÖ): https://ganzheitliche-oekologie.de