Von Sascha Vetterle
Papst Leo XIII. hat sich auf vielfältige Weise mit dem Phänomen des Liberalismus auseinandergesetzt, dessen Unzulänglichkeiten aufgezeigt und die Tradition der Kirche als lebensspendende Alternative vorgelegt. Dies gilt nicht zuletzt auch und gerade für das Wirtschafts- und Sozialleben. In seiner großen Sozialenzyklika Rerum Novarum – der ersten ihrer Art – macht sich Leo XIII. gar nicht mehr die Mühe, die Grundannahmen des Liberalismus zu widerlegen. Zu offensichtlich stehen die fatalen Folgen des liberalen Programms seinen Zeitgenossen vor Augen. Stattdessen präsentiert er die Mittel der Heilung, wie er sie aus der Tradition der Kirche schöpft. Die Unzulänglichkeiten des Liberalismus in ökonomischer Hinsicht hat dann wieder Johannes Paul II. in Laborem exercens genauer herausgearbeitet.
Doch zurück zu Rerum Novarum. In diesem lehramtlichen Meilenstein erhebt Leo XIII. unter anderem die Forderung, dass „das Recht auf persönlichen Besitz unbedingt hochgehalten werden muß“. (Rerum Novarum 35). Was zunächst wie eine Verteidigung des liberalen Grundsatzes des Privateigentums erscheint, erweist sich bei näherem Hinschauen als Kritik an der damals – und nach wie vor – herrschenden liberalen Eigentumsordnung. Denn es ist ja an dieser Stelle mitnichten vom Recht auf Privateigentum die Rede, sondern vom Recht auf persönlichen Besitz, das wohlgemerkt für jeden Menschen gilt und dies nicht etwa als rein formales, sondern als ein reales Recht.
Die katholische Antwort auf die soziale Frage lautet nämlich keinesfalls, einfach am Recht auf Privateigentum in seiner von Liberalen geschaffenen Form festzuhalten – mit seiner historisch gewachsenen – und durchaus auch von Menschen geschaffenen – Unterscheidung von Besitzenden und Besitzlosen. Ebenso wenig lautet sie aber, das Recht auf Privatbesitz in Bausch und Bogen abzuschaffen, wie es der Sozialismus fordert.
Vielmehr besteht sie in einer möglichst breiten Streuung des Privatbesitzes und so heißt es an der Stelle auch weiter: „Der Staat muß dieses Recht in seiner Gesetzgebung begünstigen und nach Kräften dahin wirken, daß möglichst viele aus den Staatsangehörigen eine eigene Habe zu erwerben trachten.“ (Rerum Novarum 35)
Katholische Denker wie Hilaire Belloc und Gilbert Keith Chesterton haben aus diesen Forderungen heraus das ökonomische System des Distributismus als katholischer Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus entwickelt.
Die Vorzüge einer solchen Ordnung beschreibt allerdings bereits Leo XIII. in Rerum Novarum. Dort heißt es:
„Ein solcher Zustand würde von beträchtlichen Vorteilen begleitet sein. Dahin gehört zuerst eine der Billigkeit mehr entsprechende Verteilung der irdischen Güter. Es ist eine Folge der Umgestaltung der bürgerlichen Verhältnisse, daß die Bevölkerung der Städte sich in zwei Klassen geschieden sieht, die eine ungeheure Kluft voneinander trennt. Auf der einen Seite eine überreiche Partei, welche Industrie und Markt völlig beherrscht, und weil sie Träger aller Unternehmungen, Nerv aller gewinnbringenden Tätigkeit ist, nicht bloß sich pekuniär immer stärker bereichert, sondern auch in staatlichen Dingen zu einer einflußreichen Beteiligung mehr und mehr gelangt. Auf der andern Seite jene Menge, die der Güter dieses Lebens entbehren muß und die mit Erbitterung erfüllt und zu Unruhen geneigt ist. Wenn nun diesen niederen Klassen Antrieb gegeben wird, bei Fleiß und Anstrengung zu einem kleinen Grundbesitze zu gelangen, so müßte allmählich eine Annäherung der Lage beider Stände stattfinden; es würden die Gegensätze von äußerster Armut und aufgehäuftem Reichtum mehr und mehr verschwinden. Es würde dabei zugleich der Reichtum der Bodenerzeugnisse ohne Zweifel gewinnen. Denn bei dem Bewußtsein, auf Eigentum zu arbeiten, arbeitet man ohne Zweifel mit größerer Betriebsamkeit und Hingabe; man schätzt den Boden in demselben Maße, als man ihm Mühe opfert; man gewinnt ihn lieb, wenn man in ihm die versprechende Quelle eines kleinen Wohlstandes für sich und die Familie erblickt. Es liegt also auf der Hand, wieviel der Ertrag, wie viel der Gesamtwohlstand des Volkes gewinnen würde. Als dritter Vorteil ist zu nennen die Stärkung des Heimatgefühles, der Liebe zum Boden, welcher die Stätte des elterlichen Hauses, der Ort der Geburt und Erziehung gewesen. Sicher würden viele Auswanderer, die jetzt in der Ferne eine andere Heimat suchen, die bleibende Ansässigkeit zu Hause vorziehen, wenn die Heimat ihnen eine erträgliche materielle Existenz darböte.“
(Rerum Novarum 35)
Als wichtige Schritte hin zu einer entsprechenden Eigentumsordnung nennt die Enzyklika einerseits eine entsprechende Lohnpolitik, die sicherstellt, dass der Haushaltsvorstand von seinem Lohn sich selbst und seine Familie anständig erhalten und darüber hinaus auch Rücklagen bilden kann. Löhne, die dem nicht genügen, lassen sich entgegen liberalen Dogmas auch durch Vertragsfreiheit nicht rechtfertigen. (Vgl. Rerum Novarum 34f, aber auch Laborem exercens 19)
Im gleichen Atemzug warnt er aber auch vor einer zu hohen Steuerquote – die zur damaligen Zeit bei einem Bruchteil der heutigen lag: „Es ist also gegen Recht und Billigkeit, wenn der Staat vom Vermögen der Untertanen einen übergroßen Anteil als Steuer entzieht.“ (Rerum Novarum 35) Denn nicht nur zu niedrige Löhne, sondern genauso eine zu hohe Steuerlast hindern die arbeitende Bevölkerung an der Vermögensbildung.
Die Botschaft von Rerum Novarum ist so (leider) auch heute noch aktuell und zugleich ist Rerum Novarum eine eindrückliche Erinnerung daran, dass der Liberalismus wirklich in jeder Hinsicht im Widerspruch zur Tradition der Kirche steht.
Der Autor ist Leiter des Instituts für ganzheitliche Ökologie (IgÖ): https://ganzheitliche-oekologie.de