Der deutsche Komponisten Hermann Schroeder (1904-1984) trug sein Herz auf dem rechten katholischen Fleck. Er lebte von, vor allem lebte er für die Kirchenmusik, deren Schönheit er nicht als irisierend wohlklingendes Accessoire, also als bloßes Dekorum, sondern gänzlich als „Musica sacra“ verstanden hat. 1958 – im Todesjahr von Papst Pius XII., den er sehr verehrte – verfasste Schroeder für die Zeitschrift „Kontrapunkte“ einen Beitrag „Zur katholischen Musik der Gegenwart“, der in seine Zeit nicht anders hineinspricht als in unsere: „Ausgangsort für die Kirchenmusik ist die Liturgie. Musica sacra im engsten Sinne ist keine „Verschönerung“ des Gottesdienstes, sondern sie ist selbst Liturgie. Man singt nicht zur Messe, sondern betet im Gesang die Messe. Für alle Zeiten ergeben sich daraus Konsequenzen, bei deren Nichtachtung bereits der Zerfall oder die Säkularisation der Musica sacra begonnen hat.“ Nicht als Unheilsprophet tritt er auf, der wortmächtig den Niedergang der geistlichen Musik diagnostiziert oder auch ankündigt, sondern als mahnende Stimme, als Katholik, der, umgeben von Unbesonnenheit und Veränderungslust, zur Besinnung aufruft. Die Liturgie sei „traditionsgebunden“, das gelte auch für die vokale Musica sacra im katholischen Raum.
Die „verstärkte Bindung an die Tradition“ nennt er selbstverständlich und hebt das kostbarste aller Instrumente hervor, die menschliche Stimme. Wichtig sei in einer Zeit, in der sich das religiöse Gefühl verändere, die „absolute Ausschaltung jedes Profanen“ und des „religiösen Individualismus“. Damit erinnert Schroeder an den geistigen und geistlichen Horizont des christlichen Abendlandes, auch an die Größe und Hoheit der Kunst, die zur Ehre Gottes geschaffen wurde. Deutlich erklärt er, dass „für persönliche Gefühle und religiöse Affekte“ in der Kirchenmusik kein Platz sei. Der gläubige Künstler ist damit also nicht Exponent seiner Ideen, sondern im Dienst der Liturgie. Sein Amt ist nicht Selbstdarstellung, es ist Teilhabe am Gottesdienst: „Der Wille zur Objektivität bedeutet aber nicht Aufgabe einer persönlichen Aussage, sondern Ein- und Unterordnung in den liturgischen Dienst. Für den schöpferischen Künstler bedeutet das weder Fessel noch Einengung, sondern Entfaltung seiner Persönlichkeit im höchsten Dienst, wobei sein persönliches Dekorum seine Ausstrahlung ist im Sinne der Augustinischen Definition der Kunst als ‚splendor veritatis’.“ Die „Freiheit des Künstlers“ sieht der Komponist eingefügt in die dankbare Unterordnung unter Gottes Gesetz, ein Gesetz, das niemanden einengt, sondern adelt und vervollkommnet. Es ist also kein von außen kommender Zwang, dem inwendig widerstrebend entsprochen wird, sondern ein aufrichtiger, freier Akt der liebenden Hingabe und des freudigen Ja-Sagens des Künstlers, sich Gott und damit der Aufgabe zuwendet, die er in der Kirchenmusik wahrnimmt – wie dies im Ideal der Kirchenmusik, in der Gregorianik, Gestalt gewonnen hat.
Damit wird neue Musik mitnichten aus dem Raum der Kirche und Liturgie verbannt – womit nicht die Gitarrensongs und Musicallieder aus der Nachkonzilszeit gemeint sind –, sondern Musik, die dem „Lob Gottes“ dient und von „echt katholischem Geist“ beseelt ist. Berechtigterweise aber muss gefragt werden: Wer entscheidet darüber, dass neue Formen der Musik tauglich sind für die Liturgie und somit im Raum der Kirche, im Gottesdienst erklingen dürfen? „Moden kommen und gehen, darauf baut man keine Kunst auf“, sagte der Komponist. Hermann Schroeder legt skizzenhaft eine kirchenmusikalische Stilkunde vor. Die Musica sacra müsse sich von ihrer „weltlichen Schwester“ unterscheiden, etwa in Bezug auf den Rhythmus, denn „der liturgische Ort verträgt keine dramatischen Steigerungseffekte, und die Singstimme ist ohnedies nur feinster und differenziertester deklamatorischer oder melismatischer Rhythmik fähig, von Natur im diametralen Gegensatz zu den für das Schlagwerk gebotenen Möglichkeiten stehend“. Trommeln und Schlagzeug werden also aus dem Kirchenraum verbannt, ebenso wenig darf in der Liturgie ein postmodernes Tanztheater stattfinden – das Schunkeln und Klatschen zur Beatmusik bleibt also außen vor. Auch die Musik der Romantik beurteilt Hermann Schroeder skeptisch. Die unter Gläubigen beliebte „Deutsche Messe“ von Franz Schubert wird zwar nicht eigens erwähnt, doch jede Form der „ichbetonten Kunst“ – selbst wenn sie geistlichen Charakter besitzen sollte – könnte eher herzerwärmend in einem Konzertsaal dargeboten und gesungen werden als in einer heiligen Messe. In dieser Hinsicht dürfte also ein Unterschied zwischen geistlicher und weltlicher Musik notwendig sein: „Wie die Bewegungen des Priesters und der liturgischen Personen gemessen und quasi stilisiert sind, so muß auch die musikalische Deutung, soll sie nicht den Rahmen im Kultus sprengen, platte Malerei ebenso vermeiden wie subjektive Dramatik der theatralischen Realistik.“ Auch unter Konservativen und Traditionalisten, nicht nur unter ehrgeizigen Avantgardisten, entdeckt Schroeder irrige Ansichten, etwa die Auffassung, dass es „kirchliche und unkirchliche Akkorde“ gebe. Vergessen werden dürfe nicht, dass sakrale Musik eine „echte, ideale Gebrauchsmusik“ sei. Das klingt zunächst ungewohnt. Musik, die zur Ehre Gottes erklingt, ist – Gebrauchsmusik? Schroeder löst damit die Kirchenmusik vor unangemessenen Weihrauchschwaden, vor einer modernistischen Experimentierfreude ebenso wie von der Haltung jener Zeitgenossen, die meinen, das christliche Abendland einzig mit der stilechten Gregorianik hochhalten und verteidigen zu müssen. Auch dies wäre ein Missbrauch der geistlichen Musik. Die Musik der Kirche dient einzig und allein der Verherrlichung Gottes. Somit drückt sich bei Hermann Schroeder die Haltung einer souveränen kirchenmusikalischen Ordnungsliebe aus, die er auch den päpstlichen Lehrschreiben von Pius XII. verdankt, etwa der Enzyklika „Musica sacra disciplinae“ aus dem Jahr 1955. In Abschnitt 24 wird ausgeführt: „Die Hinordnung und Hinleitung des Menschen auf sein letztes Ziel – das Gott ist – wird durch ein unbedingtes und notwendiges, in der Natur und der unendlichen Vollkommenheit Gottes selbst begründetes Gesetz so festgelegt, dass nicht einmal Gott jemanden davon ausnehmen kann. Durch dieses ewige und unveränderliche Gesetz wird vorgeschrieben, dass sowohl der Mensch selbst wie auch alle seine Handlungen die unendliche Vollkommenheit Gottes, zum Lob und zur Verherrlichung des Schöpfers, offenbaren und nach Kräften nachahmen. Da also der Mensch zur Erreichung dieses höchsten Zieles geboren ist, muss er sich dem göttlichen Urbild angleichen und alle seine Fähigkeiten, die des Leibes wie der Seele, gegenseitig richtig geordnet und dem zu erreichenden Ziele gebührend unterstellt, in seinem Handeln auf dasselbe hinlenken. Nach ihrer vollen Übereinstimmung mit dem letzten Ziel des Menschen sind also auch die Kunst und ihre Werke zu beurteilen.“
Vorbildlich – auch für heute – ist, dass Hermann Schroeder die Kirchenmusik als „Gebrauchsmusik im höchsten Sinne“, und dies im wahrsten Sinne des Wortes, ansieht. Er befürwortet, als unbedingtes Erfordernis, eine Gemeinschaft von Komponisten und Ausführenden, „im Sinne der praktischen Erprobung, einer kritischen Klärung des Neuen auch vom Sänger und Hörer aus“. Heißt das: „Vox populi“ ist „vox Dei“? Eindeutig lehnt Schroeder dies ab, dass die „Menge“ einfach „urteilsmäßig“ bestimmt, welche Musik im Gottesdienst gesungen werden soll – die Gläubigen müssten „von Seiten der Verantwortlichen (Klerus und Kirchenmusiker) einer erzieherischen Einwirkung unterliegen“. Man darf hoffen, dass sich die Verantwortlichen, besonders die Kleriker, auch heute dessen bewusst sind. Der katholische Komponist Hermann Schroeder drückte diese Verantwortung auf besondere Weise aus: „Wenn Kirchenmusik gesungenes Gebet ist, dann ist der Komponist der Vorbeter mit seinen Tönen.“