Die katholische Kirche zu Zeiten Pius XII. legitimierte sich aus der Tradition. Anstatt Neuerungen einzuführen, ging es Pius XII. darum, alle Lehraussagen im Lichte ewiger Prinzipien zu verstehen. Sie sollten aus der Offenbarung und der natürlichen Schöpfungsordnung ableitbar sein. Damit sollten auch die Aussagen über die Demokratie nicht als Neuerfindung des Pacelli-Papstes gelten. In seiner Weihnachtsansprache vom 24.12.1944 bezog er sich in päpstlicher Tradition auf seine Vorgänger. Die Referenz war Leo XIII. (1878-1903). Pius XII. zitierte aus dessen Enzyklika Libertas praestantissimum vom 20. Juni 1888: „die Kirche lehnt keine der vielen verschiedenen Formen ab, die eine Regierung haben kann, sofern sie nur geeignet ist, das Wohl der Bürger [utilitati civium] zu sichern.“ Die Enzyklika Libertas praestantissimum ergänzte die Enzyklika über Staat und Kirche, Immortale Dei, vom 1. November 1885. Nach der Herrschaftsauffassung Leos XIII. kann es keine Volkssouveränität geben, sondern nur die „Oberherrschaft Gottes“. Die als „leonische Designationstheorie“ bekannte Lehre definierte Leo XIII. in der Enzyklika Diuturum Illud vom 29. Juni 1881 wie folgt: „Bei dieser Wahl freilich wird der Herrscher bestimmt [designatur], werden nicht die Rechte der Herrscher übertragen; auch wird nicht die Herrschaft übergeben, sondern festgelegt, von wem sie auszuüben sei.“
Hatte Pius XII. nun in der Weihnachtsansprache die Volksouveränität akzeptiert und die Designationstheorie abgelöst? Dies behauptet zumindest Berkmann.1 Wenn Pius XII. dies täte, hätte „dies notwendig die Aufhebung des neuscholastisch-organistischen Systemdenkens zu Folge haben müssen.“2 Davon könne nach Uertz jedoch nicht ausgegangen werden.3 Allerdings habe der Papst Lehrmeinungen bekundet, die bisher unbekannt waren.4 Der Hauptsozialethiker des Papstes, Gustav Gundlach, schrieb in seiner Auslegung über die Demokratielehre Pius XII., dass der Papst, „nichts Neues einführe.“5 Pius XII. begreife Demokratie „als eine Form der öffentlichen Gewalt im Staat“, streng politisch und nicht im Sinne einer christlichen Demokratie wie Giuseppe Toniolo. Die Autorität des Staates, so Gundlach, leitet sich wie der Staat von Gott ab. Denn Pius XII. sage klar, dass „die menschliche Person, der Staat und die öffentliche Autorität […] aufs engste zusammenhängen, gemeinsam stehen und fallen, weil sie ein und dasselbe Fundament haben, nämlich Gott“. Der Staat werde davor gewarnt, „eine falsche Majestät des positiven Gesetzes aufzurichten.“ Vielmehr müsse die absolute Ordnung immer gewahrt bleiben, denn diese sei „als unantastbarer Maßstab von Gott gesetzt“. Wo dies nicht geschähe, schlage Demokratie in Tyrannei um. Damit gibt es keine menschliche Souveränität in der Gesetzgebung, weil die Ordnung Gottes immer berücksichtigt werden muss. Es tut sich eine hermeneutische Divergenz auf, bei der Frage, wie Pius XII. Demokratie genau verstand. Diese liegt vor allem daran, ob man Pius XII. in der Tradition Leos XIII., wie Gundlach es tat, sieht, oder sie eher personalistisch liest.6
Ein weiterer Blick in die Weihnachtsansprache von 1944 offenbart, dass sich alte mit neuen Aussagen kreuzen. Pius XII. machte darauf aufmerksam, dass die katholische Lehre über den Ursprung und die Anwendung der staatlichen Macht gewahrt bleiben müsse.7 Das hieße Gott als den Ursprung und damit den souveränen Rechtsträger und den Menschen als Herrschaftsanwender zu verstehen. Gleichzeitig schreibt der Papst dann jedoch vom Menschen, „der, weit davon entfernt, ein passives Element des sozialen Lebens zu sein, sein Träger, Fundament und Zweck sein und bleiben soll.“ Diese Aussage ist, wie Uertz anmerkt, „ein Novum der katholischen Soziallehre.“8 Die mögliche moderne Sprengkraft dieses Satzes, die den Menschen zum Rechtssubjekt macht und ihm damit autonome bzw. souveräne Züge gibt, wird jedoch durch andere Aussagen relativiert. Der Papst sieht, wie Gundlach bereits ausführte, eine „absolute Seins- und Zielordnung“ gegeben, die auf Gott zurückgeht. Noch weniger als jede andere Staatsform könne die Demokratie diese Verbindung auflösen. Eine Politik, die in ihrer Autorität nicht den Auftrag sehe, die von Gott gewollte Ordnung zu verwirklichen und bei der Selbstsucht vorherrsche, sei nur eine „formelle […] Demokratie“ und eigentlich „sehr wenig demokratisch“.
Nur die klare Einsicht in die Ziele Gottes könne verantwortungsvolle Politik gewährleisten. Die Männer, die in einer Demokratie Macht ausübten, müssten „Männer von klarer und gesunder Lehre“ sein. Weiterhin richte sich „eine gesunde Demokratie“ an „den unveränderlichen Grundlagen des Naturgesetzes und den geoffenbarten Wahrheiten“ aus und wende sich gegen den Staatsabsolutismus. Ein wesentlicher Teil zur Errichtung der Demokratie werde der „Religion Christi und der Kirche zukommen“ [das ist eine verklausulierte Bezeichnung für die katholsiche Kirche]. Die Kirche verteidige die Wahrheit und gebe Gnadenkräfte, um die Ordnung des Seins und Sollens zu verwirklichen. Diese Ordnung sei die letzte Grundlage und Richtschnur jeder Demokratie.
Trotz des „Novums“ in der Ansprache, bleibt der eigentliche Souverän einer Demokratie nach Pius XII. nicht das Volk, sondern Gott bzw. dessen Ordnung. Uertz fasst zusammen: „Gerade indem Pius es sich versagt, auf die praktisch-technische Seite der Ordnung der Gesellschaft […] einzugehen, nimmt er Abstand von dem Gedanken, die Demokratie ‚vom Volke‘ zu legitimieren.“9 Ist Demokratie nach Pius XII. also nur ein „Anwendungsfall der der katholischen Naturrechtslehre vertrauten Staatsformenlehre“10? Dies kann bejaht werden, zumal Pius XII. in dieser Weihnachtsansprache als Formen der Demokratie sowohl die Republik als auch die Monarchie nennt und die absolute Monarchie nicht verwechseln will mit dem „Absolutismus des Staates“. Den Absolutismus des Staates verwirft der Papst deshalb, weil sich dieser gegen Glaubenswahrheiten und das Naturrecht stellen kann. Über diese Wahrheiten darf es aber laut Pius XII. keine Abstimmung geben. In einer späteren Anspräche bedauert der Papst eine „Verachtung alles dessen, was Religion, Christentum, Unterwerfung unter Gott und sein Gesetz, zukünftiges Leben und Ewigkeit heißt.“11 Der Papst geht von einer von Gott gegebenen Weltordnung aus, unter die sich der Mensch zu unterwerfen habe:
„In einem Punkt müssen alle ihre Mitglieder gleich sein: […] in der Hingabe an die Sache der Kirche, im Gehorsam gegenüber denen, die der Heilige Geist als Bischöfe eingesetzt hat, um die Kirche Gottes zu lenken, in der kindlichen Unterwerfung unter den obersten Hirten, dessen Sorge Christus seine Kirche anvertraut hat.“12
Dass Pius XII. Gott als den eigentlichen Souverän ansah, wird auch in einem Brief an Präsident Truman deutlich. Dort sagt der Papst unmissverständlich: „Auch die bürgerliche Gesellschaft ist göttlichen Ursprungs und in der Natur selbst angelegt. […] Wenn der Staat einmal unter Ausschluß Gottes sich selber zur Quelle der Rechte der menschlichen Person gemacht hat, so ist der Mensch damit zu einem Sklaven oder zu einer rein bürgerlichen Ware herabgewürdigt, um für die selbstsüchtigen Zwecke einer Gruppe, die zufällig an der Macht ist, ausgebeutet zu werden. Die Ordnung Gottes ist umgekehrt.“13
Der Papst spricht sich jedoch nicht für eine Theokratie aus, insofern der Staat keine Sünden sanktionieren oder religiöse Gebote durch Zwangsmaßnahmen umsetzen soll. Der Staat soll sich auf das öffentliche Recht beschränken. Er soll sich um das Gemeinwohl kümmern und sich nur mit „schulhaften Handlungen [befassen], die [sich] gegen das geordnete Zusammenleben nach der gesetzlich festgelegten Ordnung“ [richten].14 Somit verlangt der Papst vom Staat nicht, als Religionspolizei zu agieren. Jedoch schränkt der Papst ein, dass staatliche Strafgesetze, die im Widerspruch zu göttlichen Gesetzen stünden, keine Grundlage besäßen und keine Schuld feststellen könnten. Das Strafgesetz gehöre insofern nicht zum heilsfreien Raum, denn solange Menschen leben, „kann und muß auch diese [Strafe] seinem ewigen Heil dienen“48. Der Strafvollzug sei religiös bezogen, indem Gott durch die Menschen strafe.49 Der Papst entzieht dem Menschen also die absolute Kompetenz, Gesetze zu erlassen. Hier wird ein Rechtsverständnis deutlich, das bereits in der Weihnachtsansprache 1944 anklingt: Gott ist der Souverän. Pius XII. erteilte dem Rechtspositivismus eine klare Absage, ebenso jener Demokratie, deren Grundlagen in der Willkür des menschlichen Gesetzgebers liegt. Ziel der staatlichen Gewalt ist es, dem Gemeinwohl zu dienen und die öffentliche Ordnung zu wahren. Es dürfen keine Gesetze erlassen werden, die im Widerspruch zum Naturrecht und der Offenbarung stehen. Insofern steht jede Demokratie laut Pius XII. unter einem letzten Vorbehalt: Die Rechte Gottes sind unantastbar.
Fußnoten:
1 Vgl. Berkmann, Burkhard Josef, Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen. Eine Annäherung aus Kirchenrecht und Europarecht (Kanonistische Studien und Texte Bd. 54), Berlin 2008, S. 182 u. 211. In Bezugnahme auf Gnägi, Albert, Kirchenverfassung und Staatsmodell, in: Concilium 18 (1982), S. 471-475, hier 473, behauptet Berkmann (Fußnote 56, S.211): „Während nach der Designationstheorie Leos XIII. durch Wahlen nur die Person des jeweiligen Amtsträgers bestimmt aber keine Vollmacht übertragen werden kann, akzeptiert das Lehramt seit Pius XII. die Volkssouveränität“.
2 Uertz,Rudolf, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789-1965) (Politik und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft Bd. 25), Paderborn München Wien Zürich 2005, S. 371.
3 Vgl. ebd. S. 371 f.
4 Ebd. S. 374.
5 Gundlach, Gustav, Grundlagen der Demokratie, S. 598. Gundlach, Grundlagen der Demokratie.
6 Vgl. dazu auch Uertz, S. 374.
7 Pius XII. Weihnachtsansprache vom 24.12.1944.
8 Uertz, Gottesrecht, S. 374.
9 Uertz, Gottesrecht, S. 375.
10 Ebd.
11 Pius XII. Ansprache an Frauen der Katholischen Aktion Italiens vom 24. Juli 1949, in: UTZ, Bd. I. S.491-499, hier 494.
12 Pius XII. Ansprache an Mitglieder der katholischen Aktion in Italien vom 3. Mai 1951 [abweichend in AAS: 3. April 1951], in: UTZ, Pius XII., Bd. II, S. 1524-1530, hier 1529f.
13 Pius XII. Brief des Heiligen Vaters an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Truman, vom 26. August 1947, in: UTZ Bd. 2, S. 1933-1936, hier 1934.
14 Pius XII. Ansprache an die Teilnehmer der sechsten Studientagung der Vereinigung katholischer Juristen Italiens vom 5. Dezember 1954, in: UTZ, Pius XII, Bd. III, S.2622-2657, hier 2625.