„Wer singt, betet doppelt!“ – Diesen sentenziös anmutenden Ausspruch schreiben frömmste Katholiken, engagierte Sangesfreunde und auch liberal gesinnte Kulturchristen dem heiligen Augustinus zu. Das Werk des Kirchenvaters begleitet mich seit langer Zeit, aber diesen Gedanken habe ich in dem Schrifttum nie entdecken könne. Mir erschien die Wendung nicht nur theologisch widersinnig, sondern auch logisch falsch. Warum vermehrt der Gesang die Kraft des Gebets? Würden Gläubige, die redlich bemüht, aber nicht die Begabtesten sind, durch falsche Töne dann den Herrgott verstimmen – oder vielleicht überhaupt nicht beten, auch wenn sie beten?
Kurzum, vielleicht verzichtet der heilige Pius X. aus gutem Grund in seinem Motu proprio „Tra le sollecitudini“, in italienischer Sprache verfasst und am 22. November 1903 veröffentlicht, auf diese Wendung, wenn er sich doch für die „Restauration der Kirchenmusik“[1] einsetzt. Zugleich gilt es heute zu berücksichtigen, dass die geistliche Musik weder ein akustisches Ärgernis noch ein dekorativer Selbstzweck sein soll. Pius X. schreibt: „Nichts darf also im Heiligtum geschehen, was die Frömmigkeit und Andacht der Gläubigen ablenken oder auch nur beeinträchtigen könnte, nichts vor allem, was die Würde und Heiligkeit der heiligen Riten störte und so für das Haus des Gebetes und die Majestät Gottes ungeziemend wäre.“
Er verzichtet darauf, die musikalisch-geistlichen Missbräuche – die es auch zu seiner Zeit gegeben hat – allesamt zu benennen, so spricht er allein vom „üblen Zustand des Gesanges und der Kirchenmusik“ und hofft auf eine feierliche Liturgie, in der die Musik zur „Ehre Gottes“, zur Heiligung und Erbauung der Gläubigen erklingt: „Die Kirchenmusik muss heilig sein; daher muss alles Weltliche nicht allein von ihr selbst, sondern auch von der Art ihres Vortrages ferngehalten werden. Sie muss ferner den Charakter wahrer Kunst besitzen, sonst vermag sie nicht jenen Einfluss auf die Zuhörer auszuüben, den sich die Kirche verspricht, wenn sie die Tonkunst in die Liturgie aufnimmt.“ Pius X. erklärt, dass der Gregorianische Choral der „Gesang der römischen Kirche“ sei, das „höchste Ideal der Kirchenmusik“: „Eine Kirchenkomposition ist um so mehr kirchlich und liturgisch, je mehr sie sich in ihrer Anlage, ihrem Geist und ihrer Stimmung dem Gregorianischen Gesang nähert; umgekehrt ist sie um so weniger des Gotteshauses würdig, als sie sich von diesem Vorbilde entfernt.“ Der Papst wünscht sich auch die aktive Teilhabe der Gläubigen – das Mitbeten und Mitsingen des gläubigen Volkes – und erklärt: „Der altüberlieferte Gregorianische Choral soll daher in reichem Ausmaß bei den gottesdienstlichen Funktionen wieder verwendet werden. Alle mögen davon überzeugt sein, dass der Gottesdienst nicht an Glanz verliert, auch wenn er nur von dieser Musikart begleitet ist. Namentlich sorge man dafür, dass der Gregorianische Gesang beim Volke wieder eingeführt werde, damit die Gläubigen an der Feier des Gotteslobes und der heiligen Geheimnisse wieder tätigeren Anteil nehmen, so wie es früher der Fall war. Die eigentliche Sprache der römischen Kirche ist die lateinische. Daher ist beim feierlichen liturgischen Gottesdienst überhaupt Gesang in der Volksprache verboten; in erhöhtem Maße gilt das für die veränderlichen wie die feststehenden Teile der Messe und des Offiziums.“ Zudem schließt er jegliche Kreativität aus, wenn er festsetzt, dass der liturgische Text so zu singen sei, „wie er in den Büchern steht, ohne ein Wort zu verstümmeln oder umzustellen“: „Bei den kirchlichen Hymnen ist die althergebrachte Form beizubehalten. Es ist also nicht erlaubt, einem Gesang, wie z.B. dem Tantum ergo, eine derartige musikalische Einkleidung zu geben, dass die erste Strophe die rührselige Form einer sogenannten Romanze, Kavatine oder eines Adagio annimmt, die zweite Strophe aber, Genitori usw., heiteren Charakter trägt.“
Ein „schwerer Missbrauch“ sei es, wenn den „heiligen Zeremonien der Liturgie“ nur die „zweite Stelle“ zugewiesen werde, so dass sie dann wie eine „Dienerin der Musik“ erscheine. Pius X. erklärt: „Im Gegenteil ist doch die Musik nur ein Teil der Liturgie und ihre untergeordnete Dienerin.“ In der Kirchenmusik, auch in der Gregorianik, ist nicht ästhetischer Genuss das Ziel, sondern einzig der würdige Gesang zur Ehre Gottes. Daran erinnert uns der heilige Papst Pius X. auch heute: Gott allein gebührt Lob und Ehre, und wir sind zum Dienst in der heiligen katholischen und apostolischen Kirche bestellt, damit wir betend, singend und auch schweigend Ihn, den dreifaltigen Gott, gläubig verehren. Die würdige Kirchenmusik hilft uns dabei.
[1] Die hier verwendeten Zitate beziehen sich auf die folgende Ausgabe, vgl. Kirchenmusikalische Gesetzgebung, Die Erlasse Pius X. Pius XI. und Pius XII. über Liturgie und Kirchenmusik, S. 7-18, Friedrich Pustet Verlag Regensburg 1956, 5. Auflage, S. 7-18.