In der Enzyklika „Notre Charge Apostolique“ (1910) kritisiert Pius X. den Versuch, das Christum zu einer liberal-bürgerlichen Ideologie zu machen. Er schreibt: „Wenn wir die Kräfte, das Wissen und die übernatürlichen Tugenden bedenken, die notwendig sind, um die christliche Stadt zu errichten, und die Leiden von Millionen von Märtyrern, und das Licht, das von den Vätern und Kirchenlehrern gegeben wurde, und die Selbstaufopferung aller Helden der Nächstenliebe, und eine mächtige Hierarchie, die im Himmel bestimmt wurde, und die Ströme der göttlichen Gnade – alles aufgebaut, zusammengehalten und durchdrungen vom Leben und Geist Jesu Christi, der Weisheit Gottes, des menschgewordenen Wortes –, wenn wir an all dies denken, ist es erschreckend, neue Apostel zu sehen, die eifrig versuchen, es besser zu machen, indem sie einen gemeinsamen Austausch von vagem Idealismus und bürgerlichen Tugenden betreiben.
Was werden sie bewirken? Was soll aus dieser Zusammenarbeit entstehen? Ein bloßes verbales und chimärisches Konstrukt, in dem wir die Worte Freiheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Liebe, Gleichheit und menschliches Hochgefühl in einem Durcheinander und in verführerischer Verwirrung glühen sehen werden, die alle auf einer schlecht verstandenen Menschenwürde beruhen.“
Was sich in „vagem Idealismus und bürgerlichen Tugenden“ offenbart, ist eine Rückkehr des Pelagianismus, der seit der Aufklärung wie ein Wiedergänger rumgeistert. Die kleinbürgerliche pelagianische Spielart des Christentums glaubt nicht an die Erbsünde und die Notwendigkeit von Gnade, sondern an „Anstand“, „Moral“ und „harter Arbeit“ als „Antwort“ auf den Glauben. Es wird nicht mehr geglaubt, dass die menschliche Natur gefallen und zum Bösen geneigt ist und nur durch die Gnade zum Heil gelangen kann. Die Tragik des Menschen – seine Zerrissenheit, seine Schwächen, Bosheiten und Tragödien werden nicht mehr gesehen. Stattdessen wird vorausgesetzt, dass er ehrlich, fleißig, gut und treu sei – von Natur aus. Diese falsche Sicht führt zu einer Tyrannei von moralischen Ansprüchen, die ohne Gnade und Heiligung zur Enttäuschung führen müssen.
Die Serie „The Office“ zeigt das auf geniale Weise. Das Beste an der Serie ist, dass die am meisten Humor haben, die sich über die Tragik nichts vormachen. Wer dem Büro zu viel Bedeutung beimisst, kann nicht lustig sein. Humor ist, wenn man darüber steht. „The Office“ ist ein Schauspiel des postmodernen Alltags wie er besser nicht sein könnte. Die Mitarbeiter wissen, wie absurd vieles ist, aber sie machen einfach immer weiter und die Besten lachen dabei. Jeder Angestellte kennt seine Rolle, macht Witze, verhält sich einfältig und geht jeden Tag wieder ins Büro. Routine gibt Stabilität.
Ein Tag im Mittelalter hatte mehr Leben als die moderne Knechtschaft unter Maschinen im Neonlicht, in denen schlecht frisiertes Humankapital die Freiheit von Gott mit einer Excelliste zelebriert. Das lacrimarum valle steht uns heute deutlicher vor Augen als jemals zuvor. Wer eine Welt voller Bürostühle, Übergewicht, Halbglatzen, Neonröhren, Scheidungen und Intrigen als „American Dream“ und „Pursuit of Happiness“ feiert, gehört ins Irrenhaus. Aber genau dieses Hinsichen am Getränkeautomaten mit Salesgesprächen und Computerflimmern ist das Leben der modernen Welt für alle „Aufgeklärten“, Postchristen und „Selbstverwirklicher.“
Es handelt sich beim modernen Christentum um einen Moralismus, weil es letztlich nicht um Moral geht im Sinne einer Sittenlehre, sondern um eine Haltung, die man ganz und gar psychologisch „verinnerlichen“ soll. Der kleinbürgerliche pelagianische Moralismus zeigt sich beim „Synodalen Weg“ im Moralisieren von allem – ohne jemals von Gnade und Erlösung zu sprechen. Sie zeigt sich auch beim Überbetonen von sexualmoralischem Fehlverhalten beim „Neuen Anfang“, als ob das Fehlverhalten nicht vor allem ein Symptom der gefallenen Natur sei, sondern durch mangelnde moralische Anstrengung erfolge. Es werden Sünden und Schwächen gezeigt, ohne die Lösung in den Vordergrund zu stellen. So wird moralisiert und „schuldig, schuldig, schuldig“ gerufen ohne „Ego te absolvo“.
Der Mensch ist gefallen, rastlos und lasterhaft. Der Weg zur Heilung geschieht durch die wahre Religion, durch die Gnade in Taufe, Beichte und Frömmigkeit. Deshalb sind die Sakramente der katholischen Kirche auch die einzigen Lösungen auf die moralischen und menschlichen Krisen unserer Zeit. Ein moralischer Anspruch oder gut gemeinter Idealismus sind Gespenster der Aufklärung, die das Gruseln lehren.