Samstag, 23. November 2024

Cathwalk-Serie von Dr. Heinz-Lothar Barth: Das Zweite Vatikanische Konzil

Erstveröffentlichung: 5. Februar 2022

Dr. phil. Heinz-Lothar Barth studierte Klassische Philologie und Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und war von 1984 bis 2016 Dozent für Griechische und Lateinische Philologie an der Universität Bonn.

Ich möchte Ihnen einen Text vorlegen, und Sie dürfen raten, von welchem Bischof er stammt:

„Seit mehr als sechs Jahren werden wir durch ein falsches Lehramt vergiftet, eine Art extreme Synthese all der konziliaren Missverständnisse und nachkonziliaren Irrtümer, die unaufhaltsam verbreitet wurden, ohne dass die meisten von uns es merken. Ja, denn das Zweite Vatikanische Konzil hat nicht nur die Büchse der Pandora, sondern auch die in die Kirche implementierte political correctness geöffnet, und zwar so allmählich, dass wir weder die durchgeführten Umwälzungen, den authentischen Charakter der Reformen, ihre dramatischen Folgen erkannten, noch ahnten, wer wirklich an der Spitze dieser gigantischen subversiven Operation stand, die der modernistische Kardinal Suenens das 1789 der katholischen Kirche’ nannte.“

Nein, es war nicht Erzbischof Marcel Lefebvre (wozu auch die Jahresangabe nicht passen würde), wie sie denken könnten, sondern so schrieb S. E. Erzbischof Carlo Maria Viganò, ehemaliger Apostolischer Nuntius in den Vereinigten Staaten, am 19. Dezember 2019 unter der Überschrift Eine Anklage gegen Papst Franziskus und ein Akt der Liebe zur Kirche; der Text ist im Internet abrufbar.[1]

Aber auch einen berühmten Text des Gründers der FSSPX will ich Ihnen nicht vorenthalten, hinter dem letztlich dieselbe oder eine ganz ähnliche Diagnose steht, nur daß sie viel früher gestellt wurde und dann zu einer tapferen, konsequenten Gegenwehr und einem bewundernswerten Werk des Wiederaufbaus führte. Im Prolog zu seinem „Geistigen Wegweiser“[2] findet man folgende Feststellung:

„Am Abend eines langen Lebens – 1905 geboren, erlebe ich das Jahr 1990 – kann ich sagen, daß dieses Leben gekennzeichnet war durch außergewöhnliche, weltbewegende Ereignisse: drei Weltkriege! Jener von 1914 bis 1918, jener von 1939 bis 1945 und jener des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965. Die infolge dieser drei Kriege übereinander aufgehäuften Katastrophen, besonders jene des letzten, sind auf dem Gebiet der materiellen, aber noch vielmehr der geistigen Zusammenbrüche unabsehbar. Die beiden ersten haben den Krieg im Inneren der Kirche vorbereitet, indem sie den Verfall der christlichen Einrichtungen und die Herrschaft der Freimaurerei erleichtert haben, die so mächtig geworden ist, daß sie mit ihrer liberalen und modernistischen Lehre bis tief in die leitenden Stellen der Kirche eingedrungen ist.“

Fehlerhafte, manipulierte Übersetzungen

Ich möchte meine Ausführungen zu den Schwächen und Fehlern des II. Vatikanums zunächst mit einigen Beispielen beginnen, die in mein eigentliches akademisches Ressort fallen, nämlich das der Latinistik. Es geht um bewußt fehlerhafte, tendenziöse Übersetzungen aus dem Lateinischen in den deutschen Fassungen der Texte. Nur wenige Beispiele möchte ich Ihnen exemplarisch präsentieren. Sie sind veröffentlicht in der von den deutschen Bischöfen approbierten Form, wie sie die Bände 12-14 des »Lexikon für Theologie und Kirche« (2. Aufl.) bieten. Man soll die Langzeitwirkung solcher problematischen Übertragungen nicht unterschätzen. Denn viele Theologen, vor allem jüngere, wären mangels solider Sprachkenntnisse, wie ich sie in meinem akademischen Studium mir erwerben und sie dann als Universitätsdozent an meine Studenten weitergeben durfte, selbst bei bestem Willen gar nicht mehr so ohne weiteres in der Lage, den Manipulationen auf die Schliche zu kommen. Viele wünschen das auch gar nicht, weil ihnen so für sie günstige Argumente aus der Hand genommen würden.

Heute wäre eine Überprüfung an sich möglich. Denn mein Studienfreund Matthias Bausenhart hat mittlerweile alle Dokumente des II. Vatikanums unter der Ägide des progressistischen Tübinger Theologen Peter Hünermann neu ins Deutsche übertragen (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil Bd. 1, Freiburg/B. 2004). Aber lustig zitiert man weiter die alten Übersetzungen, sei es aus Unkenntnis der neuen Ausgabe, sei es aus Bequemlichkeit oder eben auch aus ideologischem Grunde.

Manipulierte Übersetzungen von Texten des II. Vatikanums

1. Konstitution über die heilige Liturgie »Sacrosanctum Concilium« Nr. 4:

„Es ist der Wunsch der Kirche, daß die rechtlich anerkannten Riten, soweit es nottut, in ihrem ganzen Umfang gemäß dem Geist gesunder Überlieferung behutsam (lat. caute) überprüft werden.“ Wenn man bedenkt, wie später der Novus Ordo Missae zustande gekommen ist, dürfte dem Adverb caute – behutsam ein besonderes Gewicht zukommen. Warum hat man es im Deutschen ausgelassen?

2. Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum (Nr. 8): „Haec quae est ab Apostolis Traditio sub assistentia Spiritus Sancti in Ecclesia proficit: crescit enim tam rerum quam verborum traditorum perceptio …“ Die deutsche Übersetzung lautet: „Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte…“ Unterschlagen worden ist in dem von den Bischöfen genehmigten deutschen Text die Konjunktion enim (nämlich) nach dem Doppelpunkt. Nur durch diese Auslassung war es dem damaligen Theologieprofessor und späteren Papst Benedikt XVI. möglich, in seinem Kommentar zur Stelle ein dialektisches Nebeneinander der beiden Sätze zu postulieren; danach hätte der erste Satz ja ganz offensichtlich ein Eigenleben, der Fortschritt der Tradition könnte sich also auch in anderen Bahnen als den durch den zweiten Satz vorgezeichneten bewegen, freilich so, daß es zwischen These (Satz 1) und Antithese (Satz 2) eine Synthese gäbe. In Wirklichkeit besteht der Fortschritt der Tradition lediglich in einem immer tieferen Verständnis des apostolischen Erbes, das bruchlos zu bewahren ist. (Näheres hierzu s. Verf., Überlegungen zum katholischen Traditionsbegriff, Una Voce Korrespondenz 19/1989, S. 309-324). Der lateinische Text kann in Übereinstimmung mit der überlieferten Lehre der Kirche verstanden werden.

3. Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio Nr. 22: Hier lesen wir eine nebulöse Aussage über die das Abendmahl feiernden Protestanten: „vitam in Christi communione significari profitentur“ („sie bekennen, daß hier ein Leben in der Gemeinschaft mit Christus bezeichnet werde). Hieraus wird in der offiziellen deutschen Version in tendenziöser Wiedergabe „sie bekennen, daß hier die lebendige Gemeinschaft mit Christus bezeichnet werde.“ Alle Interpretationen beziehen sich nun auf den deutschen Text. Johannes Feiner (2LThK 13,118) schreibt in seinem Kommentar: „Damit ist aber nicht bestritten, daß auch in der protestantischen Abendmahl feiernden Gemeinde Christus gegenwärtig wird.“

Die subjektiv formulierte Aussage („sie bekennen“) wird also verobjektiviert („es ist tatsächlich so“), und aus der „lebendigen Gemeinschaft“ wird eine Art von Realpräsenz. Wen wundert es da, daß der Liturgiewissenschaftler Prof. F. Nikolasch mit Bezug auf gerade diesen Text behauptet, wenn das Konzil den evangelischen Christen in der Feier des Abendmahls eine eucharistische Wirklichkeit zugestehe, dann müsse das gleiche auch für die Katholiken gelten; folglich sei eine Eucharistiefeier ohne Priester möglich (Liturgie: Gelebter Glaube, in: „Kirche intern“«, Mai 1990), s. jetzt auch: R. Schermann (Hg.), Wider den Fundamentalismus – Kein Zurück hinter das II. Vatikanische Konzil (1990, S. 69). Wie sagte der legendäre Professor Walter Hoeres, den meine Frau und ich als unseren verstorbenen Freund bezeichnen dürfen, mit einem scholastischen Grundsatz in seinen Reden immer so schön? „Parvus error in principio, magnus error in fine.“ Ein kleiner Irrtum am Anfang führt (oft) zu einem großen Irrtum am Ende.

4. In Nostra aetate Nr. 2 (Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen) heißt es im lateinischen Originaltext mit Blick auf das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen: „Sincera cum observatione considerat (Ecclesia) illos modos agendi et vivendi, illa praecepta et doctrinas, quae, quamvis ab iis quae ipsa tenet et proponit in multis discrepent, haud raro referunt tamen radium illius Veritatis, quae illuminat omnes homines.“ In der deutschen Version lesen wir: „Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie (die Kirche) jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahr­heit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.“ Denselben deutschen Text bot später auch wieder die amtliche vatikanische Fassung der Deklaration „Dominus Iesus“ (Nr.2). (Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche. Amtliche vatikanische Fassung, hg. mit Einführung von Leo Scheffczyk und Kommentar von Joseph Kardinal Ratzinger, Stein am Rhein 2000, 12). „In manchem“ würde auf Latein „in nonnullis“, „in quibusdam“, „in aliquibus“ o.ä., je nach Bedeutungsnuance, heißen. Niemals kann „in multis“ so aufge­faßt werden, wie es hier geschieht. Korrekterweise wurde es daher später im „Denzinger-Hünermann“ (Nr. 4196) mit „in vielem“ wie­dergegeben. Im lateinischen Urtext erschien den Progressisten aber der Abstand zwischen den Religionen, die man ja zusammenführen möch­te, trotz dessen klarer ökumenistischer Tendenz noch als zu groß. Wir werden noch sehen, welche Nähe man zwischen der einzig wahren katholischen Religionen und den irrigen Glaubensformen geschaffen hat – wider einen klaren religionswissenschaftlichen Befund! Auch in der Neuen Messe sollten die Anhänger jegli­cher Glaubens- und Welt­anschau­ungs­formen wenigstens als im Heil geeint erschei­nen. Folglich mußte „pro multis“ innerhalb der Konsekrationsworte über dem Kelch („Hic est enim calix sanguinis mei, novi et aeterni testamenti, mysterium fidei, qui pro vobis et pro multis effundetur in remissionem peccatorum“) „für alle“ statt, wie es richtig lauten müßte, „für viele“ heißen, „in multis“ hingegen hatte im Konzilsdokument „in manchem“ zu bedeuten. Man nimmt’s halt, wie man’s braucht!

Texte des II. Vatikanums, die in sich problematisch sind

Vorbemerkungen zur Verbindlichkeit des Pastoralkonzils

Schauen wir uns nun wie angekündigt einzelne besonders auffällige Aussagen aus den Konzilstexten an, wo es nicht um fehlerhafte Übersetzungen geht, sondern wo der lateinische Urtext schon Problematisches bis Falsches enthält.

Solche Schwächen aufzuzeigen muß durchaus nicht bedeuten, daß man das II. Vatikanum in Bausch und Bogen ablehnt. Auch Papst Benedikt selbst hat mehrfach in seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation, vor allem in seiner berühmten Ansprache des Jahres 1988 an die Bischöfe Chiles, betont, daß die Texte des letzten Konzils kein neues Dogma verkündet haben und im Lichte der Tradition zu lesen sind. Sie sind demnach nicht sakrosankt und jeder Kritik enthoben, worauf z. B. Alexandra Teuffenbach in ihrem Buch „Aus Liebe und Treue zur Kirche“ (Berlin 2004, 90) und noch deutlicher Sefan Hartmann (Ist Kritik am Konzil erlaubt? KATH.NET vom 11. 9. 2005) aufmerksam gemacht haben. Sollten sich Mängel oder gar direkte Fehler wissenschaftlich sauber dokumentieren lassen, was allein schon aufgrund der Schnelligkeit, mit der manches verhandelt worden war (Teuffenbach 58; 96) – von böser Absicht einmal abgesehen – , nicht von vornherein auszuschließen ist, darf man nicht vergessen, daß die Aussagen des Konzils, soweit sie nicht vorher schon endgültig definiert worden waren, prinzipiell „reformabilia“, d. h. überholbar sein können.

Daß keineswegs alles, was auf dem letzten Konzil in Dokumenten festgehalten wurde, absolut verbindlichen Charakter trägt, hat Msgr. Florian Kolfhaus in seiner glänzenden Doktordissertation nachgewiesen: Pastorale Lehrverkündigung – Grundmotiv des Zweiten Vatikanischen Konzils. Untersuchungen zu „Unitatis Redintegratio“, „Dignitatis Humanae“ und „Nostra Aetate“, Münster 2010. Weihbischof Athanasius Schneider hat recht, wenn er in einem mutigen Bekenntnis zugab, „daß einige objektive Irrtümer in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils zu finden sind“ (Erläuterungen zum Fall des Papstes Liberius [+ 366], in: Kirchliche Umschau 19,12/2016, 29). Im Umfeld dieses Satzes erläuterte der Apostelnachfolger, warum seine Diagnose keineswegs Grundsätzen der katholischen Dogmatik widerspricht, wie immer wieder einmal sowohl von progressistischer als auch von halbkonservativer Seite behauptet wird. Und Kardinal Burke sagte zur Verteidigung der Dubia, die er und drei weitere Kardinäle gegen Amoris latetitia eingereicht hatten, „bei einem Konflikt zwischen der kirchlichen Autorität und der heiligen Tradition der Kirche binde die Tradition, die kirchliche Autorität stehe nur im Dienst an der Tradition.“ (Die Tagespost vom 19. November 2016, 1)

Trifft nicht auch zu, was Weihbischof Athanasius Schneider vor kurzem zum aktuellen Verhältnis des Hl. Stuhls gegenüber der Priesterbruderschaft St. Pius X. und ihrer Kritik an einzelnen (nicht allen!) Texten des II. Vatikanums schrieb: „I noticed that some teachings – let us say, the topics of religious freedom, collegiality, the Attitude towards non-Christian religions and the attitude towards the world – were not in an organic continuum with previous tradition … They often dictate by administrative power. There is no argument. The argument is power.“[3] Falsche Religionsfreiheit, falsche Kollegialität, falscher interreligiöser Dialog und eine zu positive Haltung gegenüber der Welt sind also alles problematische Aspekte der modernen Kirchenausrichtung, über die man diskutieren darf: Sie können nicht einfach par ordre du mufti von Rom dekretiert werden. Dies aber geschieht zur Zeit immer noch, und zwar nicht etwa, so Bischof Schneider, aus der Kraft einsichtiger Argumente, sondern aus purer Machtvollkommenheit – man könnte folglich sehr wohl von einem Machtmißbrauch und damit von diktatorischen Maßnahmen sprechen!

Nächte Woche fragen wir, ob in der Pastoralkonstituton „Gaudium et Spes“ die Erlösung Christi durch einen „neuen Humanismus“ ersetzt wird.


[1] Mein Zitat beruht auf der „technisch aus dem Italienischen übertragenen“ deutschen Version.

[2] Zitat nach: Sonderdruck III aus „Damit die Kirche fortbestehe“, Stuttgart 1992, 815.

[3] Christus vincit. Christ’s Triumph Over the Darkness of the Age. Bishop Athanasius Schneider in conversation with Diane Montagna, Angelico Press/USA 2019, 120.

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