Donnerstag, 26. Dezember 2024

Die Erbsünde: Traditionelle Lehre und moderne Verfälschung

Der Cathwalk veröffentlicht ab heute eine vierteilige Reihe von Heinz-Lothar Barth über die Erbsünde. Jede Woche wird ein Teil veröffentlicht. Teil 1/4:

„Zu tief ist die Lehre von der Erbsünde in den Stoff des christlichen Glaubens verwoben, als daß sie sich ohne Schaden für das Ganze herauslösen ließe.“ So argumentierte zu Recht Christoph Kardinal Schönborn in einem lesenswerten Aufsatz.[1] In vielfacher Weise wird heute die katholische Lehre von der Erbsünde auch innerhalb der Kirche angegriffen. Dies kann bis zu ihrer völligen Leugnung reichen. Da es sich um ein eminent wichtiges Thema handelt, wollen wir es in vier Teilen unseren Lesern näher bringen.

Geht die Erbsündenlehre auf ein biblisches Mißverständnis zurück?

So behauptet man z.B., die Lehre von der Erbsünde, die zweifellos durch St. Augustinus stark gefördert, aber keineswegs von ihm „erfunden“ wurde, gehe auf ein Mißverständnis des griechischen Urtextes von Röm 5,12 in der lateinischen Übersetzung zurück. Nach dem griechischen Original faßt man den Text meistens so auf: „Durch einen Menschen ist gleichsam die Sünde in die Welt hineingekommen und durch die Sünde der Tod, und so ist auf alle Menschen der Tod übergegangen, weil alle gesündigt haben.“ Entscheidend ist, was im Nebensatz am Schluß nach dem griechischen Originaltext eph’ (= epi) heißt: Bedeutet es „weil alle gesündigt haben“, wie die moderne Exegese in der Regel sagt, oder „in dem (nämlich Adam) alle gesündigt haben“? Die Hieronymus-Vulgata hat hier übersetzt mit in quo, was die zweite Deutung begünstigt (allerdings nicht erzwingt), wobei freilich der Relativsatz recht weit vom Bezugswort „per unum hominem“ („durch einen Menschen“) entfernt wäre. Die Neo-Vulgata aus dem Pontifikat Johannes Pauls II. sagt eo quod, was dem kausalen Nebensatz entspricht. Mit einer von der Mehrzahl der lateinischen Exegeten abweichenden Interpretation des Konnektors (wie die Philologen sagen) eph’ hō hat man die Erbsündenlehre bekämpft: Die Sünden des Menschen seien nicht eine direkte Folge der Sünde Adams und gleichsam in seiner Sünde enthalten, es gebe keine „Vererbung“ der ersten Sünde. 

Geht die Ursünde auf Adam oder auf ein Kollektiv zurück?

So entwickelte die Nouvelle théologie, die, vor allem in Frankreich und Deutschland, schon vor dem II. Vatikanum  aufgekommene Neue Theologie, eine Konzeption, nach der das Böse unter den Men­schen zwar eine Realität ist, aber nicht auf eine vom Stamm­vater aller Menschen begangene „Ursün­de“ (lat. peccatum originale) zurück­geht, die durch die Zeugung der Nachkommenschaft die gesamte Menschheit infiziert hat. Der bedeutende Neuthomist R. Garrigou-Lagrange O.P. hat schon vor der Zurückweisung der in der Nouvelle théologie verfochtenen Irrtümer durch die Enzyklika „Humani generis“ des Papstes Pius XII. jene falschen Tendenzen scharfsinnig analysiert und ihre Gefahren aufgezeigt. Jene problematische Erbsündenlehre faßte er treffend in den Worten zu­sammen: „Le péché originel n’est donc plus en nous un péché qui depend d’une faute volontaire du premier homme, mais il provient des fautes des hommes qui ont influé sur l’humanité.“ (La nouvelle théologie où va-t-elle? in: Angelicum 23/1946, 136). Auf Deutsch würde das etwa heißen: „Die Ursünde ist nicht mehr in uns eine Sünde, die von einer freiwilligen Verfehlung des ersten Menschen abhängt, sondern sie kommt von den Verfehlungen der Menschen, die Einfluß auf die Menschheit ausgeübt haben.“ Das ist natürlich eine der Tradition widersprechende vollkommene Neuinterpretation! Sie hängt u. a. damit zusammen, daß man kein erstes Elternpaar mehr annehmen will (obwohl dies naturwissenschaftlich gar nicht ausgeschlossen ist) und daher die Ur-/Erbsünde kollektivieren muß. Unmittelbar nach dem Erscheinen jenes Rundschreibens  gab Charles Boyer noch einmal einen kurzen Überblick über die neuen heterodoxen Ansichten Henri de Lubacs und seiner Mitstreiter, wies auf den hierdurch mit der Tradition vollzogenen Bruch hin und ver­teidigte die Abwehrmaßnahmen Pius’ XII. (Les leçons de l’ Encycli­que „Humani generis“, in: Gregorianum 31/1950, 526-539, zur Erb­sünde: 532-534). 

Mehrere Bibelstellen sichern die katholische Lehre von der Erbsünde ab

Freilich schadet dieser Angriff dem katholischen Dogma gar nicht, gleichgültig, wie man zu der sprachlichen Exegese steht: Die ganze Passage Röm 5, 12-21 sichert uns (neben anderen Bibelstellen und der mündlichen Tradition) nämlich ausreichend die katholische Doktrin, und im griechischen Original, das eben „eph’ hō“ lautet, haben schon die meisten griechischen Väter die Bedeutung „weil“ herausgelesen (was freilich nicht unbedingt notwendig, aber doch wahrscheinlich ist) und trotzdem die Ursünde anerkannt. Entscheidend ist hier vor allem ferner Röm 5,19, wo es heißt: „Wie nämlich durch den Ungehorsam des einen Menschen (Adam) die vielen (d. h. die Masse = alle; natürlich den Gottmenschen Jesus Christus, aber auch die Gottesmutter, gemäß dem katholischen Dogma von 1854, ausgenommen) zu Sündern gemacht worden sind (wörtlich: als Sünder hingestellt worden sind), so werden auch durch den Gehorsam des einen (Jesus Christus) die vielen zu Gerechten gemacht werden (wörtlich: als Gerechte hingestellt werden).“ Und hinzuzunehmen ist auch noch für die Erbsünden-Doktrin vor allem 1 Kor 15,22, wo es heißt: „Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden“. 

Zur ganzen Problematik kann man nur folgende ausgezeichnete, knappe und konzise Darlegung empfehlen: Johannes Brinktrine, Die Lehre von der Schöpfung, Paderborn 1956, 318-322! Dieses fast als klassisch zu bezeichnende Buch trägt auch sehr sorgfältig die Schriftstellen aus AT und NT, die kirchliche Tradition und die lehramtlichen Entscheidungen zur Erbsündenlehre zusammen. Aus jüngerer Zeit hat sie auch der ehemalige katholische Bonner Dogmatiker Michael Schulz verteidigt und darauf hingewiesen, daß der ganze Kontext der Paulusstelle im Römerbrief die traditionelle Lehre stützt, selbst wenn man der in der Neuzeit vor allem auf Erasmus von Rotterdam zurückgehenden philologischen Kritik zustimmen sollte (Michael Schulz, Erlösung wovon? Christsein wozu? Augsburg 2009, 88 87-89). 

Wenn man das Dogma von der Erbsünde nicht ganz ablehnt, so wird es zumindest oft in mannigfachen Versuchen relativiert: Man bemüht sich, es dem modernen Denken irgendwie gefälliger zu machen, wobei die wahre Lehre nicht selten bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Solchen Versuchen wollen wir hier nicht nachgehen, der Leser kann manche von ihnen z. B. in folgendem Buch nachlesen: Helmut Hoping/Michael Schulz, Unheilvolles Erbe? Zur Theologie der Erbsünde, Freiburg/B. 2009.[2]

Ziel der folgenden Ausführungen

Uns geht es im folgenden um etwas anderes: Welche Veränderungen hat man an der Erbsündenlehre auf dem II. Vatikanum und unter den Päpsten der konziliaren Ära, v. a. Johannes Paul II., mit Blick auf den Ökumenismus und die interreligiösen Aktivitäten vorgenommen? Ist die christliche Taufe, durch welche die Erbsünde im Sinne der Gottesferne getilgt und ein gottgefälliges Leben in der Kirche ermöglicht wird, für den Menschen noch absolut heilsnotwendig? Oder befinden sich mehr oder minder alle Menschen im Heil, weil sie unterschiedslos von Gott begnadet sind und eine Mitwirkung mit dieser Gnade letztlich nicht mehr erforderlich erscheint?

Die verschiedenen Zustände der menschlichen Natur im Blick auf Gott

Zunächst gilt es, wesentliche Aspekte der katholischen Lehre von der Erbsünde ins Gedächtnis zu rufen, bevor man auf moderne Verfälschungen zu sprechen kommt. Dabei ist es sinnvoll, zu Beginn einen Blick auf die verschiedenen „Stände“ („status“) der menschlichen Natur zu werfen, die heute teilweise verworfen werden, für die authentische Lehre von der Erbsünde aber unabdingbar sind. Wir zitieren sie hier nach der gängigen scholastischen Terminologie. Am einfachsten und am leichtesten verständlich ist die Gliederung im „Grundriß der Dogmatik“ von Ludwig Ott (11. Aufl., mit Literaturnachträgen, Bonn 2005, 167).[3] Unter die „bloß möglichen Stände“ reiht der Theologe folgenden Fall ein: „Der Stand der reinen Natur (status naturae purae), d. i. ein Zustand, in dem der Mensch das, aber auch nur das, besitzen würde, was zur menschlichen Natur gehört, und in dem er zu einem natürlichen Endziel gelangen könnte.“ Dieser Stand wird heute massiv angegriffen, weil er die Konsequenz einer „Zwei Stockwerks-Theologie“ sein soll, die fälschlich Gnade und Natur völlig trenne. An diesem „Status“ muß aber im Sinne einer Unterscheidung (nicht Trennung!) von Gnade und Natur festgehalten werden. Besonders bei der Diskussion um den  limbus puerorum, den transzendenten Aufenthaltsort der ungetauften, also mit der Erbsünde behafteten unmündigen und insofern persönlich unschuldigen Kinder, ist dieser Aspekt von großer Bedeutung. Denn jene Gottesgeschöpfe gelangen nach klassischer Lehre nicht zur seligen Anschauung Gottes, leben aber, was oft verschwiegen wird, in einem Zustand (rein) natürlichen Glücks. An dieser Lehre gilt es festzuhalten, auch wenn sie heute immer wieder angegriffen wird. In folgenden umfangreicheren Ausführungen zur gesamten Thematik der Erbsünde bin ich ausführlich auch auf jenen „Limbus puerorum“ eingegangen: Die Erbsünde. Traditionelle und moderne Lehre, editiones scholasticae, Neunkirchen-Seelscheid 2022 (53-72). 

Die anderen Stände sind nach Otts Einteilung: „Der Stand der erhobenen Natur (status naturae elevatae), d. i. der Urzustand der ersten Menschen vor dem Sündenfall, in dem sie sowohl die absolut übernatürliche heiligmachende Gnade als auch die außernatürlichen Gaben (auch „präternaturalen Gaben“ genannt, H-L B) der Integrität besaßen.“ Gemeint sind mit letzteren die Gabe der leiblichen Unsterblichkeit (donum immortalitatis), der Freiheit von Leiden (donum impassibilitatis), der Freiheit von der falschen Begierlichkeit bzw. Konkupiszenz (donum rectitudinis) und ein von Gott eingegossenes Wissen natürlicher und übernatürlicher Wahrheiten (donum scientiae infusae) (vgl. Ott, 164-166). Um die Frage der übernatürlichen Gnade des Menschen vor dem Sündenfall wurde übrigens im Mittelalter gerungen, sie ist aber mittlerweile positiv entschieden (Heinrich Köster, Urstand, Fall und Erbsünde. In der Scholastik, Handbuch der Dogmengeschichte, hrsg. von Michael Schmaus u. a. , Bd. II, Fasz. 3 b, Freiburg/B. 1979, 14-22; 76-95). Weitere Stände sind nach Otts Konzeption, die durch die Tradition gedeckt ist: Der Stand der gefallenen Natur (status naturae lapsae), d. i. der Zustand nach dem Sündenfall, in dem das Gnadenleben zerstört ist und die präternaturalen Gaben dem Menschen genommen sind, wohl aber die natürliche Vernunft bleibt, freilich in geschwächter Form. Durch das Erlösungsopfer Jesu Christi wird dem Menschen wieder der Weg zum Leben in der Gnade Gottes eröffnet: Dieser Stand wird als der status naturae reparatae bezeichnet, also als der Stand der wiederhergestellten Natur; die präternaturalen Gaben bleiben allerdings versagt. Und schließlich gibt es noch den Stand derjenigen, die das ewige Ziel erreicht haben und zur unmittelbaren Anschauung Gottes gelangt sind; hier handelt es sich um den status naturae glorificatae, den Stand der verherrlichten Natur. Manche andere Dogmatiken legen eine formal etwas abweichende, im wesentlichen Inhalt aber identische Aufteilung vor, so z.B. das sehr gut lesbare, lateinisch geschriebene Lehrbuch von Ad. Tanquerey, Synopsis theologicae dogmati­cae (Tom. II, Parisiis etc. 1926, Nr. 851, S. 531 f.).             

Konkrete Folgen der Erbsünde

Auch nach der Taufe, also im Zustand der naturae reparatae, bleibt trotz des Gnadenlebens bekanntlich noch eine Verwundung der Seele. Traditionell wird diese als eine vierfache aufgefaßt: Es existieren das vulnus ignorantiae,  die „Wunde der Unwissenheit“, die den Intellekt verdunkelt, das vulnus infirmitatis, die „Wunde der – charakterlichen – Schwäche“, die mangelnde Kraft bei der Überwindung des Bösen und beim Einsatz für das Gute, das vulnus malitiae, die „Wunde der Boshaftigkeit“, die den Willen zum Aufstand gegen Gottes Gebote geneigt macht, und das vulnus concupiscentiae, die „Wunde der Begierlichkeit“, wodurch das sinnlich Angenehme auch gegen das Urteil der Vernunft und gegen Gottes Gebote erstrebt wird.[4] 

Das Buch zum Artikel: „Die Erbsünde – Traditionelle und moderne Lehre“ (Heinz-Lothar Barth)


[1] Die kirchliche Erbsündenlehre im Umriß, in: ds. – Albert Görres – Robert Spaemann, Zur kirchlichen Erbsündenlehre – Stellungnahmen zu einer brennenden Frage, 2Freiburg 1994, 69-102, Zitat 81   

[2] Auch der schon in der letzten Anmerkung genannt Sammelband bietet einen informativen Beitrag zu den verschiedenen Formen der Verfälschung in der Erbsündenlehre: Robert Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre, 37-66.  

[3] Früher sagt man gerne humorvoll, aber nicht ohne tieferen Grund: „Mit Schott und Ott ganz flott zu Gott.“

[4] Siehe hierzu z.B. Brinktrine, Die Lehre von der Schöpfung, 342 f.   

Teil 2:

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