Papst Pius XII. hielt am vom 6. Dezember 1953 eine Ansprache vor Juristen, die auch als „Toleranzansprache“ bekannt ist. Dort nannte der Papst Grundsätze der Toleranz:
„Wir haben eben die Autorität Gottes erwähnt. Kann Gott, obwohl es ihm möglich und leicht wäre, den Irrtum und die sittliche Entgleisung zu unterdrücken, in einigen Fällen das „Nichtverhindern“ wählen, ohne in Widerspruch mit seiner unendlichen Vollkommenheit zu geraten? Kann es geschehen, daß er unter bestimmten Verhältnissen den Menschen kein Gebot gibt und keine Verpflichtung auferlegt, ja ihnen nicht einmal das recht zugesteht, den Irrtum und das Falsche zu unterdrücken?
Ein Blick auf die Wirklichkeit gibt eine bejahende Antwort. Sie zeigt, daß sich Irrtum und Sünde weithin auf der Erde finden. Gott verwirft sie; doch er läßt sie bestehen. Daher kann der Satz: die religiöse und sittliche Verirrung muss immer, wenn es möglich ist, verhindert werden, da es an sich unmoralisch ist, sie zu dulden, nicht in absoluter Unbedingtheit gelten. Anderseits hat Gott auch der menschlichen Autorität kein solches uneingeschränktes und allgemeines Gebot gegeben, weder im Bereich des Glaubens noch in dem der Moral. Ein solches Gebot kennt weder die allgemeine Überzeugung der Menschen, noch das christliche Gewissen, noch die Quelle der Offenbarung, noch die Praxis der Kirche.
Um hier die andere Texte der Heiligen Schrift, die sich auf dieses Thema beziehen, beiseite zu lassen, so hat Christus im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut folgende Mahnung gegeben: Laßt das Unkraut auf dem Acker der Welt zusammen mit dem guten Samen wachsen wegen des Getreides. (Vgl. Matth. 13, 24-30) Die Pflicht, sittliche und religiöse Verirrungen zu unterdrücken, kann also keine letzte Norm des Handelns sein. Sie muss höheren und allgemeineren Normen untergeordnet werden, die unter gewissen Verhältnissen erlauben, ja es vielleicht als den besseren Teil erscheinen lassen, den Irrtum nicht zu verhindern, um ein höheres Gut zu verwirklichen.“
Darauf basierend stellte Pius XII. eine „Toleranzformel“ auf:
„1. Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion.
2. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein.
Ob dann diese Bedingung im konkreten Fall zutrifft – es ist die „Quaestio facti“ („Die Frage des Sachverhaltes“) -, muss vor allem der katholische Staatsmann selber entscheiden. Er wird sich bei seiner Entscheidung von dem Vergleich der schädlichen Folgen, die sich aus der Toleranz ergeben, mit den schädlichen Folgen, die durch Annahme der Toleranzformel der Staaten-Gemeinschaft erspart bleiben, leiten lassen, d. h. also von dem Gut, das sich bei einer weisen Voraussicht für die Gemeinschaft als solche und indirekt auch für den Mitgliedssaat davon erwarten läßt. Was den religiösen und sittlichen Bereich angeht, wo wird er auch das Urteil der Kirche einholen. Auf deren Seite ist in solchen entscheidenden Fragen, die das internationale Leben berühren, in letzter Instanz nur der zuständig, dem Christus die Leitung der ganzen Kirche anvertraut hat, der römische Papst.
Doch wir wollen zu den beiden oben genannten Prinzipien zurück kehren und in erster Linie zu dem der unbedingten Ablehnung von allem, was religiös falsch und sittlich schlecht ist. Diesem Punkt gegenüber gab und gibt es in der Kirche keinerlei Schwanken, keinerlei Paktieren, weder in der Theorie noch in der Praxis. Ihre Haltung hat sich im Laufe der Geschichte nicht geändert und kann sich auch nicht ändern, wo und wann immer sie in den verschiedensten Formen vor die Entscheidung gestellt wird, entweder den Götzen Weihrauch zu streuen oder für Christus das Leben hinzugeben. Der Ort, an dem Sie sich heute befinden, das Ewige Rom, mit den Überresten einer vergangenen Größe und mit den glorreichen Erinnerungen an seine Märtyrer ist der beredtste Zeuge für die Antwort der Kirche. Der Weihrauch wurde nicht vor den Götzenbildern verbrannt, und das Christenblut hat den heilig gewordenen Boden getränkt. Doch die Tempel der Götter liegen da in den kalten Ruinen der noch eindrucksvollen Trümmer, während an den Gräbern der Märtyrer Gläubige aller Völker und aller Zungen mit Inbrunst das alt ehrwürdige Credo der Apostel wiederholen.
Was das zweite Prinzip betrifft, nämlich die Toleranz unter bestimmten Umständen, die Duldung auch in Fällen, wo man zur Unterdrückung schreiten könnte, so hat sich die Kirche – schon aus Rücksichtnahme auf diejenigen, die in gutem Glauben (irrtümlich zwar, doch unüberwindlich) anderer Meinung sind – veranlaßt gesehen, sich tolerant zu verhalten, und hat dies auch getan, nachdem sie unter Konstantin dem Großen und den anderen christlichen Kaisern Staatskirche geworden war, immer um höherer und wichtigerer Ziele willen; so handelt sie auch heute, und auch in Zukunft wird sie sich vor derselben Notwendigkeit finden. In solchen Einzelfällen ist die Haltung der Kirche vom Schutz und von der Rücksichtnahme auf das Bonum commune, das Gemeinwohl der Kirche und des Staates in den verschiedenen Staaten einerseits und andererseits das Gemeinwohl der universalen Kirche des Reiches Gottes auf der ganzen Erde, bestimmt.“
Die Ansprache ist abgedruckt in: Utz, Arthur, Groner, Josef, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., Bd. II, 1962, S. 2046 – S. 2052.
Und online auf: https://katholischglauben.info/pius-xii-ueber-die-religioese-toleranz/