Von Dr. Christoph Rohde
Der Brixener Priester und Seelsorger Friedrich Oberkofler hat in einer schonungslosen Diagnose die Verweltlichung der kirchlichen Seelsorge moniert. Sein Buch In den Fängen des Fortschritts? Die kirchliche Seelsorge am Scheideweg zwischen Verweltlichung und offenem Himmel zeigt, dass die Krise der seelsorgerischen Praxis nicht durch eine Anpassung an den Zeitgeist, sondern durch eine Rückkehr zu den Prinzipien des Evangeliums zu überwinden ist.
Im ersten Teil deckt Oberkofler die Ursachen für die Austrocknung des Glaubens auf, um in einem zweiten Schritt Perspektiven für eine Rückbesinnung auf die gute Botschaft und eine Erneuerung der Seelsorge zu eröffnen, die er Pastoral des „offenen Himmels“ nennt.
Vom theozentrischen zum anthropozentrischen Weltbild
Um im Diskurs anschlussfähig zu bleiben, wie man heute sagen würde, versuchte die Kirche, Kompromisse gegenüber einer rationalen Moderne einzugehen. Was kirchenoffiziell als Häresie gebrandmarkt wurde, sickerte jedoch tief in die Ecclesia ein: Das ausschließliche Vertrauen auf die menschliche Vernunft ersetzte einen transzendenzverhafteten Offenbarungsglauben; säkulare Aufklärer in ihrer „postmetaphysischen“ Hybris verstanden es, den Glauben an einen personalen Gott lächerlich zu machen.
Der Mensch wurde zum Zentrum aller Dinge, zum „Angelpunkt des Seins“ (S. 24). Die kritische Mentalität der Aufklärung stellte alle Bereiche der Theologie in Frage: die Offenbarung Gottes, die Autorität Gottes, die Gebote, die Dogmen, die Kirche und die Sakramente sowie die Leugnung der Auferstehung als lebendige Glaubenshoffnung. Damit hat die Kirche im Grunde ihre Existenzberechtigung verloren und wird zu einer reinen Erziehungsanstalt, die dabei helfen kann, die Ziele des Staates zu realisieren. Die Kirche wurde zu einer rein menschlichen Institution degradiert, die im Folgenden den Anschluss an die Aufklärung suchte.
Der Historismus machte jede Erkenntnis zu einer zeit- und ortsabhängigen Variable und verunmöglichte den Glauben an historische und geistliche Kontinuitäten, der Darwinismus als unabweisbares naturalistisches Entwicklungsprinzip führte zur Aufgabe des Glaubens an einen persönlichen Schöpfer.
Ziel der Modernisten: Den Gegensatz von Kirche und Welt aufheben
Der Liberalismus postuliert die Gleichrangigkeit aller Religionen, da sie rein subjektiven Charakters seien. Das Christentum sei deshalb auch nur ein subjektives Erlebnis, sein Inhalt wird damit veränderbar und dem Urteil der Vernunft stets neu unterworfen. Es gibt kein Kriterium, das ein Alleinstellungsmerkmal erlangt. Die Auferstehung als zentrale Daseinsbedingung wird zu einem Narrativ unter Vielen. Jeder, wie er es mag.
Das bewusste Fehlinterpretieren der Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils
Der Verfasser zeigt, dass bereits in der Konstitution Gaudium et Spes vor der Gefahr des Modernismus für die Mission der Kirche gewarnt wurde. Mit Schlagworten wie der Ablösung nicht mehr zeitgemäßer Hierarchien in der Kirche, einer „Demokratisierung“ selbiger und der „Bekehrung der Kirche zur Welt“ wurde eine Hermeneutik des Bruchs realisiert. Gegen die Konzilstexte wurde eine parakonziliare Ideologie durchgesetzt, die scheinbar weltoffen war, so Oberkofler.
Der charismatische, aber selbstverliebte Theologe Hans Küng und seine Mitstreiter wandten sich in ihrem Progressivismus vor allem gegen das Amt des Papstes, das sie bewusst falsch darstellten. Die Banalisierung der Liturgie als Heil stiftendes Ereignis kommt dazu. Das Christentum als Markt der Möglichkeiten, ein Irrweg, der zu massiven Kirchenaustritten und zu einer Existenzkrise der Kirche führt. Und die besonders relativistisch geprägten Medien haben mit Wollust die Wohlfühlkirche mit gepredigt, die von der Last des Kampfes gegen Sünde und um den Glauben befreit war. Papst Benedikt XVI. verteidigte das Konzil als reformorientiert und traditionsbewusst.
Nein, Oberkofler lehnt die Aufklärung nicht ab und ist kein verschrobener Anti-Modernist. Er sieht in der Aufklärung ein Instrument zur Reflexion des eigenen Glaubens, nicht zur Vereinfachung oder Abschaffung des Glaubens.
Die „Gesellschaft“ bewertet den Nutzen der Kirche
Dass weite Teile der Kirche zu einer Nicht-Regierungsorganisation geworden sind, die sich nicht für die Verkündigung der guten Botschaft und ewigen Hoffnung einsetzt, ist das Resultat der tiefen Verweltlichung. Es sind gesellschaftliche Gruppen aus Politik und den Medien, die sich anmaßen, die Kirche zu beurteilen. Wo selbige in der Caritasarbeit akzeptiert wird, werden die biblischen Wahrheiten, die den gesellschaftlichen Normen entgegen stehen, als reaktionäre Dogmen abgelehnt. Deshalb wird Laien die Kompetenz zugeschanzt, die der Klerus angeblich nicht mehr hat.
Der Priester wird in den Gemeinden durch Laienräte systematisch entlastet und verliert seine Autorität als Hirte, moniert der Autor; der Priester soll die Rolle eines Sozialmanagers, wenn nicht gar eines Entertainers, einnehmen. Die „Lebenswirklichkeit“ der Menschen soll zur neuen Norm gegen Gottes Wort aufgebaut werden, oder in Oberkoflers Worten: „Die Sünde wird zum Menschenrecht erklärt“ (S. 124); aus der Religion wird eine Zivilreligion. Anstatt eine christliche Gegenkultur zu entwickeln, die einen Wandel im Gebet in den Vordergrund stellt, lassen sich breite Teile der Kirche unter einen öffentlichen Rechtfertigungsdruck setzen. Die Lagebeurteilung ist dramatisch, aber sie gilt vor allem für Deutschland und Westeuropa. Der Brixener Priester aber hat den Glauben gehalten und offeriert vielversprechende Strategien, damit die Seelsorge den Menschen wieder das Fenster zum Himmel zu öffnen vermag.
Die Zukunft der Kirche
Die Säkularisierung ist nicht mit der Moderne gleichzusetzen, meint der Autor. Sie kann als Chance zur konstruktiven Abgrenzung betrachtet werden, meint der Verfasser. Wenn die Menschen wie zu Zeiten der Ur-Gemeinde einen alternativen Lebensstil unter den Christen wahrnähmen, dann könnte das Christentum wieder attraktiv für Viele werden. Das Schrumpfen der äußerlichen Kirche gehört zur Wahrheit Christi dazu. Die innere Erneuerung muss eine Rückbesinnung zur christzentrierten Kirche beinhalten.
Jesus ist Herr der Seelsorge
Jesus Christus kennt die Bedürfnisse des Menschen, die sich auch in einer fortschrittlichen Welt geistlich nicht unterscheiden von den Nöten zu Zeiten seines irdischen Daseins. Zwangsläufig muss die Seelsorge eine eschatologische Dimension beinhalten. Sie muss, das ist die zentrale Botschaft des Buches, die Sehnsucht nach dem Himmel offenhalten. Denn mit einer ewigen Hoffnung relativieren sich irdische Mühen und Probleme. Der Himmel muss im Zentrum stehen. Die Liturgie ist der heilende Weg, der durchaus moderne Elemente beinhalten kann. Aber sie muss in der Traditionslinie des letzten Abendmahls stehen, suggeriert Oberkofler.
Die Liturgie ist Werk Gottes und nicht die Werkstatt der Gemeinde, folgert er. Die Eucharistie ist dabei von zentraler Bedeutung, um Gottes Menschennähe regelmäßig lebendig zu halten. Sie stiftet die Gemeinschaft im Opfer Christi und in der Hoffnung der Auferstehung und ist in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Das Priesteramt, so der Autor, muss gestärkt und die Priester gerade nach den Missbrauchsskandalen geschützt werden. Hier hätte man sich noch Ideen dazu gewünscht, wie die Kirche der Gläubigen eine Ethik der Wahrhaftigkeit in Bezug auf Missbrauchsfälle und ein Unterstützungssystem für angefochtene Geistliche etablieren kann.
Die Mission als Antwort auf den Relativismus
Eine Kirche, die nicht im Konflikt mit der Welt und ihren beliebigen Maßstäben ist, kann nicht die wahre Kirche Christi sein. Denn die Mission ist die Botschaft der Liebe, deren Wesen es ist, weiter getragen zu werden. Dass Modernisten darin einen Fundamentalismus und eine intolerante Haltung sehen, ist nicht zu vermeiden und soll auch gar nicht vermieden werden. Wer von der Erfahrung Gottes angesteckt wurde, kann nicht schweigen. Die Mission verhindert deshalb das Abdriften in Gesetzlichkeit und Gleichgültigkeit oder das, was die Offenbarung als Lauheit bezeichnet. Wer glaubt, der will davon erzählen. In Zeiten der Corona-Pandemie, in der viele Menschen an ihrem kleinen Dasein hängen, gibt es keine größere Botschaft als die Hoffnung auf die Auferstehung.
Ein wichtiger Wegweiser für authentischen Glauben
Das sehr gut lesbare, weil nicht theologisch verquälte, sondern praktisch orientierte Buch sollte ein Muss für jeden Geistlichen und Gläubigen sein, der Mut hat, Gottes Wort und dessen Forderungen höher zu stellen als den Zeitgeist und für jeden, der die ewige Hoffnung höher bewertet als die kurzen Vergnügungen der sichtbaren Welt. Oberkoflers Gedanken sind eng an die Theologie und Praxis Benedikt XVI. angelehnt, was eine eigene Stärke ausmacht. Die Lektüre dieses mutigen, positiv radikalen Buches hat auch den Glauben des Rezensenten gestärkt. Es ist einem breiten Leserkreis anempfohlen.
Friedrich Oberkofler: In den Fängen des Fortschritts? Die kirchliche Seelsorge am Scheideweg zwischen Verweltlichung und „offenem Himmel“. Rückersdorf. Lepanto Verlag. 410 Seiten. 2. überarbeitete Auflage. 19,80 Euro. www.lepanto-verlag.de