Eine geistliche Betrachtung
An dem ehemaligen Jungengymnasium, das ich besuchte, standen besonders die Naturwissenschaften in hohem Ansehen. Meine Lateinklasse zählte knapp dreißig Schüler – und dazu kamen nie mehr als sechs Schülerinnen.
Manche Pädagogen kosteten das aus. Der Lateinlehrer schwärmte von Julius Caesar und verehrte auch Hindenburgs Militärtaktiken: „Der Name dieses Mannes sollte jedem von euch ein Begriff sein!“ Nun denn, in meiner Erinnerung habe ich vier Jahre lang an allen Feldzügen des römischen Heeres teilgenommen. Der „Gallische Krieg“ dauerte somit auf gewisse Weise bis in die 1980er-Jahre fort. An der Tafel prangte „Mens sana in corpore sano!“ – doch zu soldatischer Zucht taugten nur einige. Wir waren damals 13 oder 14 Jahre alt.
Die Olympiade der Schulleistungen fand statt, zu Ehrgeiz wurden wir angestachelt. Manche tobten sich auf der Aschenbahn aus, um eine Sekunde schneller zu sein als andere. Das Kollegium bestand teilweise noch aus Lehrern, die an Hitlers Krieg teilgenommen hatten, ebenso aus Anhängern der 1968er-Pädagogik. Ein Deutschlehrer schätzte Hartmut von Hentigs Weisheiten sehr, gefiel sich in Zynismus, agierte wahlweise autoritär oder verächtlich.
Die Religionsstunden fielen anfangs natürlich aus. Es fehlte an Lehrpersonal. Die Pfarrer der umliegenden Kirchengemeinden hatten wahrscheinlich sehr viel zu tun. Wichtig schien die Leistungsethik des Bürgertums zu sein. Dazu gehörten auch lästige Sportstunden, die unverzichtbar zu sein schienen, vom Geräteturnen bis zum Dreikampf. Oder? Ich spazierte gern, ging also langsam. Warum also hätte ich schnell laufen sollen? Der Sauseschritt entsprach so wenig dem Rhythmus des Kirchenjahres wie jede Form von törichtem Ehrgeiz und lästigem Eifer.
Thomas Mann, der Protestant, der Papst Pius XII. bewunderte und verehrte, bezeichnete die Schule zeitlebens eine „Zwangsanstalt“ – und wusste ganz sicher warum. In jedem zweiten Jahr wurde eine sogenannte Skifreizeit angeboten. Einmal nahm ich teil. Die Schneeverwehungen waren ästhetisch reizvoll. Dieser Ausflug gehörte zum Klassenziel, die bürgerliche Gesellschaft anerkannte solche Abenteuer sehr. Also gingen Lateinschüler auf Reisen. Zwei Jahre später dann ließen sich einige wenige Schüler von dem Ausflug nach Südtirol befreien. Das wurde von den strengen Lehrern akzeptiert und zugleich missbilligt. Wir mussten in der Zeit in einer Französischklasse unterrichtet werden. Wir mussten? Wir durften. Diese vierzehn Tage waren angenehm und erholsam, besonders auch atmosphärisch gesehen. Wir hatten einfach Glück, mit den Lehrern, die uns wohlwollend und freundlich gesinnt aufnahmen, mit den Mitschülern.
Besonders gern erinnere ich mich gern daran, dass ich neben einem netten Mädchen saß, sitzen durfte. Dafür werde ich immer dankbar bleiben. Ob sie Sofia, Maria oder Theresia hieß, weiß ich heute – mehr als dreißig Jahre später – nicht mehr. Ihr Lächeln bleibt mir unvergessen, auch dass sie, kaum dass ich Platz genommen hatte, ihren Tisch an meinen heranrückte, sodass ich mit in ihre Bücher schauen konnte. Ich war damals so schüchtern, wie ein Katholik mit sechzehn Jahren nur sein konnte. Dieses Mädchen mit den langen, brünetten Haaren und dem herzlichen Lächeln habe ich nicht vergessen. Wir unterhielten uns leise, und ich war sicher übervorsichtig. Vom ersten Augenblick an mochte ich sie gern. Leider habe ich ihr das damals nicht gesagt, aber vielleicht hat sie es trotzdem bemerkt. Anders als sonst schaute ich in diesen vierzehn Tagen nicht aus dem Fenster, weil die sich im Wind wiegenden Bäume mich mehr zu lehren wussten als die Diskussionen oder Vorträge im Klassenzimmer.
Ja, mir gefiel das Lächeln meiner Banknachbarin sehr, und ich weiß auch nicht, warum wir uns später nie wieder begegnet sind. Vermutlich hat sie die Schule nach der zehnten Klasse verlassen. In dem Mädchen leuchteten Freundlichkeit und Güte auf. Wenn ich heute an Güte denke, sehe ich manchmal noch ihr Lächeln vor mir – das Lächeln eines Mädchens, das einen anthrazitfarbenen Pullover trug.
In diesen Tagen ging es ganz entspannt dort zu, und ich lernte, zumindest vierzehn Tage lang: Schule kann und könnte auch ganz anders sein, ja – unser Leben kann und könnte ganz anders sein. Auf kleine Zeichen der Güte kommt vieles, manchmal alles an. Im Französischunterricht verstand ich nichts, aber meine Nachbarin schenkte mir ab und zu ein Lächeln – und ich erwiderte das Lächeln. So verstand ich doch, was wesentlich war. Auf dieses ganz besondere leise, gütige Lächeln kommt alles an. Dieses Lächeln sagt uns: Du darf sein. Es ist schön, dass du da bist. Die Güte lässt uns leben, sie macht uns froh und erfüllt uns. Vierzehn Tage meines Lebens bin ich wirklich gern zur Schule gegangen.
Viele Jahre später – am 30. August 2015 – hat der emeritierte Papst Benedikt XVI. in der heiligen Messe in der Kirche des Campo Santo Teutonico in der Predigt gesagt: „Wahrheit, Liebe und Güte, die von Gott kommen machen den Menschen rein, und Wahrheit, Liebe und Güte begegnen sich im Wort, das von der Vergesslichkeit einer Welt, die nicht mehr an Gott denkt, befreit.“ Noch an eine zweite Homilie Benedikts XVI. möchte ich erinnern.
Die Güte, die in der Kirche Gottes wohnt, kann uns gestalten, prägen und formen. Wir können diese Güte ausstrahlen und verkörpern, wir könnten der Güte Raum schenken. Es ist die Güte des Herzens, die uns aufatmen, die uns leben und lieben lässt. Von dieser Güte erfüllt, können wir einander begegnen, in jungen Jahren, in der Mitte des Lebens und im „pianissmo“ des Alters. Die Gottesmutter schenkt uns ein Vorbild der Demut und Güte: „Der Mensch, der sich vollkommen in die Hände Gottes übergibt, wird keine Marionette Gottes, keine langweilige, angepaßte Person; er verliert seine Freiheit nicht.
Nur der Mensch, der sich ganz Gott anvertraut, findet die wahre Freiheit, die große und schöpferische Weite der Freiheit des Guten. Der Mensch, der sich zu Gott hinwendet, wird nicht kleiner, sondern größer, denn durch Gott und zusammen mit Ihm wird er groß, wird er göttlich, wird er wirklich er selbst. Der Mensch, der sich in die Hände Gottes übergibt, entfernt sich nicht von den anderen, indem er sich in sein privates Heil zurückzieht; im Gegenteil, nur dann erwacht sein Herz wirklich und er wird zu einer einfühlsamen und daher wohlwollenden und offenen Person.
Je näher der Mensch Gott ist, desto näher ist er den Menschen. Das sehen wir an Maria. Der Umstand, daß sie ganz bei Gott ist, ist der Grund dafür, daß sie auch den Menschen so nahe ist. Deshalb kann sie die Mutter jeden Trostes und jeder Hilfe sein: Jeder kann es in seiner Schwachheit und Sünde wagen, sich in jeder Art von Not an diese Mutter zu wenden, denn sie hat Verständnis für alles und ist die für alle offene Kraft der schöpferischen Güte. Ihr hat Gott sein Bild aufgeprägt, das Bild dessen, der dem verlorenen Schaf bis in die Berge und bis in die Stacheln und Dornen der Sünden dieser Welt nachgeht, indem er sich von der Dornenkrone dieser Sünden verwunden läßt, um das Schaf auf seine Schultern zu nehmen und es nach Hause zu tragen.
Als Mutter, die mitleidet, ist Maria die vorweggenommene Gestalt und das bleibende Bildnis des Sohnes. Und so sehen wir, daß auch das Bild der Schmerzensmutter, der Mutter, die das Leiden und die Liebe des Sohnes teilt, ein wahres Bild der Immaculata ist. Ihr Herz hat sich durch das Mit-Gott-Leben und Mit-Gott-Fühlen geweitet. In ihr ist uns Gottes Güte sehr nahe gekommen.
So steht Maria vor uns als Zeichen des Trostes, der Ermutigung und der Hoffnung. Sie wendet sich an uns und sagt: »Hab’ Mut, es mit Gott zu wagen! Versuche es! Hab’ keine Angst vor Ihm! Hab’ Mut, das Wagnis des Glaubens einzugehen! Hab’ Mut, dich auf das Wagnis der Güte einzulassen! Laß dich für Gott gewinnen, dann wirst du sehen, daß gerade dadurch dein Leben weit und hell wird, nicht langweilig, sondern voll unendlicher Überraschungen, denn Gottes unendliche Güte erschöpft sich niemals!«“
Dass wir, als Töchter und Söhne Gottes, unser ganzes Leben lang diese Güte im Herzen tragen und ausstrahlen mögen, wünsche ich mir sehr.