Eine geistliche Betrachtung
Vor einem Jahr wurde in den deutschen Kathedralkirchen die „Synodalkerze“ angezündet, symbolisch für den Auftakt des „Synodalen Weges“ im Januar 2020. Heute, ein Jahr später, haben sich die damals geäußerten Befürchtungen vieler ganz normaler Katholiken weitgehend bestätigt. Die Neuevangelisierung spielt, wenn überhaupt, eine Nebenrolle.
Manchmal wirkt die Kirche hierzulande wie eine ausgezehrte, erschöpfte politische Partei, die nur noch mit sich selbst beschäftigt ist und beständig die Agenda der Nachkonzilszeit wiederholt. Noch immer bestreitet niemand, dass die Erneuerung der Kirche notwendig ist, und noch immer bleiben die Treue zu Christus, zum Evangelium und zur Lehre der Kirche dabei unverzichtbar. Noch immer ist die gültige und unverkürzte Ehe- und Morallehre der Kirche die beste Rezeptur gegen alle Verlockungen, Versuchungen und Verführungskünste des virulenten Zeitgeistes. Das bestätigt auch Pater Engelbert Recktenwald in den Beiträgen seiner lesenswerten Philosophie-Reihe: „Der moralische Anspruch dagegen trifft uns in einer gegebenen Situation unabhängig davon, ob er uns schmeckt oder nicht. Wenn wir auch oft nicht wissen, was uns wirklich glücklich macht, so wissen wir doch oft genug ganz genau, was moralisch gut ist und was nicht.“
Ebenso hat der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Voderholzer die Ausrichtung auf die Lehre der Kirche in einem Vortrag betont: „Die kirchliche Ehe- und Sexualmoral will den Menschen nicht durch unmenschliche Regeln knechten, sondern ihm dabei helfen, groß und heilig und so wirklich menschlich zu werden.“ Wir brauchen nicht eine Anpassung der Lehre der Kirche an die sogenannte Lebenswirklichkeit des modernen Menschen, sondern die Anpassung des Menschen von heute an die Lehre der Kirche – um seinetwillen, seines Heils und seiner Erlösung wegen. Unsere Hoffnung heißt Christus. Darum folgen wir Ihm und Seiner Kirche und richten uns nicht mit Pippi Langstrumpfs Weisheit bequem, saturiert und blasiert hienieden ein: „Ich mache mir die Welt, so wie sie mir gefällt.“ Das Jüngste Gericht ist übrigens auch kein traditionalistisches Gerücht. Wir dürfen gelassen bleiben, wenn wir den Glauben der Kirche, die Sakramente und den bleibenden Ruf zur Bekehrung ernst nehmen.
Irrlichter, Synodallichter, Adventslichter – es gibt so viele Möglichkeiten, sich in dieser Welt zu orientieren oder zu verlaufen. Der Unglaube wächst mitten im Raum von Kirche und Theologie. Manchmal scheinen Gottlose wenn nicht frömmer, so doch redlicher zu sein. So kommt mir Friedrich Nietzsche in den Sinn. Er ist vielleicht der wütendste, aber auch der traurigste Atheist der Philosophiegeschichte. Sie kennen vielleicht seine Wendung: „Gott ist tot!“ Können Sie sich vorstellen, dass dieser Nietzsche, der abtrünnige Pastorensohn, gern an Gott geglaubt hätte? Ist das unvorstellbar? Manchmal ist es ratsam, nicht nur die großen Werke von Philosophen, sondern auch die Korrespondenzen genau zu studieren. Auf eine vielsagende Passage in einem Brief am 2. Juli 1885 an den protestantischen Theologen Franz Overbeck möchte ich aufmerksam machen. Der einsame Nietzsche schreibt: „Mir besteht mein Leben jetzt in dem Wunsche, daß es mit allen Dingen anders stehn möge, als ich sie begreife; und daß mir Jemand meine »Wahrheiten« unglaubwürdig mache. – –“
An welchen „Wahrheiten“ orientieren wir uns? Auch wir sind heute in den Wirrnissen der Postmoderne, in der „Diktatur des Relativismus“ (Joseph Ratzinger), umgeben von so vielen Anschauungen, Meinungen und Ansichten, die wir vielleicht für absolut gewiss, für wahr halten. Wir können uns alle möglichen Lebenswirklichkeiten ausdenken und zurechtfantasieren. Wir können uns von der Kirche und von Gott abwenden. Wir können aber die Wahrheit, die unser Leben trägt und hält, nicht machen oder ideenreich herstellen. Doch wir sind eingeladen, an die Wahrheit zu glauben – und damit dem, der von sich gesagt hat: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ (Joh 14,6)
Jeder darf in einer freien Welt, ganz so wie er mag, synodal wie säkular unterwegs sein – wohin immer diese Wege auch führen mögen. Fragen wir uns aber im Ernst: Verzehren wir uns nach bacchantischem Daseinsjubel, nach dionysischen Lustbarkeiten, nach der postmodernen Dekadenz – oder einfach nur nach dem Brot des Lebens? Selbst Friedrich Nietzsche hatte möglicherweise eine Ahnung davon. Die Heiligen lehren uns durch ihr Leben und Beispiel, dass es gut und richtig ist, auf den Wegen Gottes als Pilger unterwegs zu sein – nach Bethlehem, in das „Haus des Brotes“, nicht ins gottferne Niemandsland der bunt illuminierten Postmoderne.