Was ist die Grundhäresie unserer Zeit? Subjektivismus. Es ist die Ansicht, der Glaube sei keine eine objektive Wahrheit und Gott sei nicht erkennbar. Stattdessen habe jeder seine eigenen Vorstellungen. Was zähle seien Motivation und Emotion, die „persönliche Gottesbeziehung“, bei der Gott dem einen dies, dem anderen jenes sage. Das einzig objektive seien die Naturwissenschaften.
Diese Ansicht ist im Kern Egoismus statt Christentum. Die Wurzeln reichen weit zurück. Im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit erhebt sie sich mächtig empor. Als Katalysatoren dieser Ansicht seien die Devotio Moderna (Neue Frömmigkeit) und die Reformation genannt, welche vor allem das Werk Martin Luthers war.
Die Devotio Moderna war eine Bewegung des 15. Jahrhunderts, deren Ursprünge in den Niederlanden, dem Niederrhein und Westfalen liegen. Viele ihrer Frömmigkeitsformen waren ganz und gar mit dem katholischen Glauben vereinbar. Aber es gab auch faule Früchte, die während der Reformation geerntet wurden. Die falsche Richtung der Devotio Moderna interessierte sich nicht für Liturgie und die kirchliche Ordnung, sondern nur für die eigene, innerliche Gottesbeziehung. Das Wort „modern“ für „neu“ steht hier genau für die persönliche, den Menschen zum Maßstab machende Instanz für die Wahrheit der Religion. Im Gegensatz zur Scholastik des Mittelalters rückte das eigene Erleben in den Vordergrund.
Luther, der Anti-Scholastiker, griff dies auf. Bei Luther wurde die persönliche Gotteserfahrung zum Grundbaustein seiner Theologie. Sein Gewissen rückte an die Stelle der tradierten Lehre, sein Glaubensgefühl an die Stelle der religiösen Praktiken. Auf dem Reichstag zu Worms 1521 sagte Luther: „so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.“ Damit machte er sich selbst zum Papst, zur Kirche und Wahrheitsinstanz.
Martin Luther reformierte die Kirche nicht. Ignatius von Loyola und das Konzil von Trient sorgten für eine Reform der Kirche. Luther schaffte ein neues Christentum nach seinem „Gewissen“, seiner eigenen Meinung und seinem Bibel- und Gottesverständnis. Luthers Christentum ist ein radikaler Bruch mit dem tradierten Christentum. Es gibt bei Luther nur noch 2 Sakramente (Taufe und „Abendmahl“), keine Priester und Bischöfe mehr (im eigentlichen Sinn) und auch keine Kirche mehr (im eigentlichen Sinn).
Luther behauptete noch, dass seine Neuschaffung des Christentums das einzig wahre Christentum sei. Aber auf welcher Grundlage? Luthers Christentum gründet nur auf seiner subjektiven Meinung und hat keine Grundlage in der Geschichte. Der Subjektivismus wurde im Protestantismus des 19. Jahrhunderts vollends umgesetzt. Nun ging es nicht mehr um Wahrheit, nur noch um Kultur und Nationalbewusstsein. Heute, im 21. Jahrhundert, ist der Protestantismus – bis auf wenige Ausnahmen – nur noch linke Gesellschaftspolitik und Motivationssprech. Jesus ist nicht mehr Christus, andere Religionen gleichwertig und die Tradition rechtsradikal. Das (irrende) Gewissen mag das rechtfertigen. Die Heilige Schrift und die Tradition nicht.
Hier müsste man sich ganz genau mit der Theologia teutsch befassen, einem der wichtigsten Texte des Spätmittelalter. Dass es Luther getan hat, spricht nicht gegen ihn, eher, dass er nicht dabei geblieben ist.
Die protestantische theologische Wissenschaft ist seit gut 200 Jahren
durch die Reformation à la façon de Genève geprägt.
Das zeigt sich in ihren führenden Vertretern bis über Karl Barth hinaus.
Der Calvinismus aber war in allen seinen Verzweigungen betont
anti-subjektivistisch.
Die beklagte geistige Entwicklung Martin Luther (in den Augen der
Reformierten ein „Krypto-Papist“) zuzuschreiben, halte ich für
nicht begründbar.