Besonders Besucher der „Alten Messe“ nicken wahrscheinlich ganz selbstverständlich von innen her, wenn sie nur die Überschrift dieses kleinen Beitrags lesen. Die abendländische Musik, so sagte Benedikt XVI. anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Krakau am4. Juli 2015, beschreibe Erfahrungsräume und erschließe Dimensionen der Wirklichkeit, die mit Worten unzureichend oder gar nicht erfasst werden könnten. In der Feier der Liturgie sei Musik eine „Begegnung mit der Wahrheit“, ja ein „Wahrheitsbeweis des Christentums“. Der emeritierte Papst nannte dann einen Reigen großer Komponisten aus dem europäischen Kulturraum – von Palestrina über Bach bis Mozart.
Nun ist nicht jede Orchestermesse wahrhaft liturgietauglich – so mag die „Große Messe in c-Moll“ zwar in einem Konzertsaal herzerhebend erklingen, die Liturgie würde sie indessen eher verdrängen. Die Pflege, Wertschätzung und Hochachtung der geistlichen Musik im Gottesdienst und insbesondere in der Feier der Liturgie war Benedikt XVI. ein ernstes, wertvolles und wichtiges Anliegen. Er sprach auch an jenem Sommertag in Castel Gandolfo bedächtig und klar, scheute sich freilich auch nicht, von der anstößigen Wahrheit des Christentums zu sprechen – und einen heute in der Öffentlichkeit so angefochtenen Begriff, nämlich das unschuldige Wörtchen „abendländisch“, in seine Rede behutsam und sachgerecht miteinzuflechten.
Ganz im Gegensatz zu Benedikt XVI. übrigens äußerte sich ein bekannter Philosoph, der zu den bedeutendsten Denkern des Abendlandes gehört, aber von Musik eher wenig verstanden hat. Ich denke an den Königsberger Philosophen Immanuel Kant. Er spricht in Bezug auf Musik nicht von Wahrheit, sondern von einem kunstvollen „schönen Spiel der Empfindungen“. Dem scheinen wir vielleicht sogar zustimmen zu wollen, wenn auch wir Musik im Gottesdienst als schön, fromm oder erhebend qualifizieren – und dann altbekannte Lieder nicht betend singen, sondern beherzt „schmettern“. Die Leidenschaften frommer katholischer Seelenwerden dann hörbar, manchmal im Wohlklang, zuweilen auch in einem orkanartigen Wirbel rauschhaft geräuschvoller Ekstase oder nostalgischer Schwärmerei.
Unser Philosoph Kant scheint das markige Kirchenlied – ich denke etwa an „Zieh an die Macht, du Arm des Herrn“, aber auch anderes ist vorstellbar – treffend zu beschreiben, wenn er von der Affektbestimmtheit in der Musik spricht. Manches Gemüt werde „inniglich“ davon bewegt, dies sei aber „mehr Genuß als Kultur“. Die „konsonierenden Affekte“ führten zu einem „behaglichen Selbstgenuss“. Wer mit der Philosophie Kants ein wenig vertraut ist, ahnt, dass der Philosoph offensichtlich Musik nicht sehr geliebt hat. Diese Kunst, so Kant, verlange auch beständige Abwechslung, sonst führe sie zu Überdruss.
Manche von uns werden an die akustische Buntheit in heiligen Messen denken, in denen Lieder verschiedener und oft ganz eigener Art an allen möglichen und unmöglichen Stellen platziert werden, vom katholischen Kampflied bis hin zum Marienlob. Auch im Gesangbuch „Laudate Patrem“ finden sich Gesänge aus Taizé, deren Melodien viele fromme Christen sehr erfreuen. Wer sich in der neuesten Ausgabe des Gotteslobs römisch-katholisch orientieren möchte, kann leicht die Orientierung verlieren und staunen, welche Lieder dort verzeichnet sind.
Nun könnte man sagen: Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Oder: Über Geschmack lässt sich streiten. Doch sogar das Zweite Vatikanische Konzil – Sie erinnern sich noch? – bekräftigte in Abschnitt 116 der Konstitution „Sacrosanctum concilium“: „Die Kirche betrachtet den Gregorianischen Choral als den der römischen Liturgie eigenen Gesang; demgemäß soll er in ihren liturgischen Handlungen … den ersten Platz einnehmen.“
Erinnert sei erneut an die Worte Benedikts: Musik ist ein „Wahrheitsbeweis des Christentums“, damit meinte er aber nicht – alles, was klingt, preist schon den Herrn, nur weil es singt und tönt mit Schalle. Manchmal dröhnt auch nur die allzu fade Weisheit dieser Welt aus den Liedern, die im Gotteshaus angestimmt werden. Musik gehe dann, wie Kant bemerkt –einseitig, aber treffend – „von Empfindungen zu unbestimmten Ideen“. Sieerscheine uns somit „eher lästig als angenehm“. Darum nahm für Immanuel Kant Musik einfach nur den „untersten Rang unter den schönen Künsten“ ein. Von Wahrheit sprach er nicht, auch nicht von der Wahrheit des christlichen Glaubens. Vielleicht hätte sich der große Philosoph korrigiert, wenn er den Gregorianischen Choral vernommen hätte. Ob er dann noch einmal neu über Musik wenigstens nachgedacht hätte?
Kant war ein Protestant. An den Königsberger Kirchen spazierte er, der Legende nach, grußlos vorüber. Was mich betrifft: Ich halte es lieber mit Benedikt XVI. als mit Immanuel Kant – und Sie vielleicht auch? Wir sind und bleiben dankbar für die Schönheit der Musik, insbesondere für den Gregorianischen Choral in der Feier der heiligen Eucharistie. In der Musik der Kirche scheint die Wahrheit des Glaubens auf, etwa bei Anbetung des Allerheiligsten Sakraments des Altares. Erinnert sei an den eucharistischen Hymnus des heiligen Thomas von Aquin. Die erste Strophe lautet:
„Adoro te devote, latens Deitas,
Quae sub his figuris vere latitas
Tibi se cor meum totum subiicit,
Quia te contemplans totum deficit.“
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Im „Schott“ aus dem Jahr 1921 wird dies wie folgt übersetzt:
„In Demut bet‘ ich dich, verborgene Gottheit, an,
Die du den Schleier hier des Brotes umgetan.
Mein Herz, das ganz in dich anschauend sich versenkt,
Sei ganz dir untertan, sei ganz dir hingeschenkt.“
Und so ist es würdig und recht.