Eine Betrachtung
Für einen Christen ist die Anrede „Ach, du Schaf!“ eigentlich keine Beleidigung, im Gegenteil. Das Schaf gehört zu den freundlichen, gelegentlich etwas störrischen Vierbeinern. Es gilt als lammfromm. Als „dummes Schaf“ mag es ungern bezeichnet werden. Friesische Deichschafe etwa grasen gemütvoll vor sich hin. Sie trotzen Wind und Wetter, wahrscheinlich auch allen neuen synodalen Geistern. Wenn ein weitgereistes Schaf sich ihnen als „Amazonas-Schaf“ vorstellt, werden die einheimischen Schafe zunächst skeptisch sein.
Handelt sich es dabei um das berühmte „verlorene Schaf“? Oder ist dieses Schaf nur ein listiger Aufschneider? Das „Amazonas-Schaf“ liebt das Abenteuer. Es berichtet davon, es findet auch Unterstützung oder zumindest Gehör. Nun will es ganz, ganz neue Wege gehen. Wohin die neuen Wege führen, weiß es nicht. Es möchte einfach selber Schaf sein und sich blökend verwirklichen. Einige Schafe halten das für eine gute Idee, andere Schafe grasen lieber weiter vor sich hin.
Allerdings erinnern sich etliche Schafe noch an die Band „Famous lost sheep & friends“. Der Leadsänger, ein Schaf mit Gitarre, war auf der Bühne ein Held, ein echtes Rampenschaf: „Danke für diesen guten Morgen, dann für all das grüne Gras …“ Es kannte so viele neue geistliche Lieder. Die Band gab noch weitere Deichkonzerte. Manche Schafe meinen, sie würde heute über die großen Schafkirchentage touren. Das „Amazonas-Schaf“ zieht auch weiter. Einige Schafe behaupten, das sei alles nur Schafpolitik. Immer wieder dasselbe, wie in der hektischen Schafkonzilszeit. Die friesischen Deichschafe kennen immer noch Ebbe und Flut – und auch den guten Hirten. Gegenüber Gremien sind sieskeptisch. Gelegentlich machen neuerdings synodale Schafe auf sich aufmerksam. Sie möchten über andere Formen der Schafleitung nachdenken, eine Art Schafokratie wäre doch vorstellbar.
Einige synodale Schafe werben für den „Gezeitenwandel – mehr Flut und weniger Ebbe“. Doch hat eine Handvoll Schafe soviel Macht? Andere haben neue ethische Konzepte erarbeitet und eine neue Schafmoral. Sie möchten allesentspannter sehen und entspannter leben. Eine Expertengruppe hat unter dem Titel „Schäferstündchen – ganz anders Schaf sein“ über vieles nachgedacht. Manche von ihnen tagen seit über fünfzig Jahren, gewissermaßen generationsübergreifend. Jede Zeit hat ihre eigenen Schafe, aber auch neue Themen? Politische Schafe tragen zuweilen empört Thesen vor: „Heute geschoren! – Morgen erkoren?“
Sie wollen ein neues Selbstbewusstsein und auch sich selbst entwickeln. Ein einflussreiches Schaf, ein paar Deiche weiter wohnend, hat doch neulich versprochen, mit selbstbewussten, kritischen Schafen Seite an Seite zumarschieren, alles zu verändern, um die alte Schafgesellschaft von Grund auf zu erneuern und vor allem gemeinsam zu blöken. Einige Schafe stimmen zu. Doch ein älteres Schaf sagt seiner Familie: „Wisst ihr nicht, wer das Lied »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« singt? Oder seid ihr auch nur eine Schafpartei?“ Die Schafe wissen das nicht, aber eine Partei wollen sie auch nicht bilden. „Wer hat denn das gesungen?“ fragen sie. Die SPD auf ihren Parteitagen, erzählt das ältere Schaf. Aber viele Schafe wissen auch nicht mehr, was die SPD ist. Die älteren unter den politischen Schafen können sich vage daran erinnern. Ja, es gebe doch schwarze Schafe und rote Schafe, weiß ein kluges Schaf zu berichten, auch gelbe und grüne. „Und viele Schafköpfe!“ blöken ältere, grimmige Schafe im Chor, wenn auch nicht mit Engelsstimmen, und das kluge Schaf verstummt.
Die meisten Schafe fressen noch immer lieber grünes Gras und vertrauen auf den guten Hirten. Nun, mit einer neuen Schafpolitik kann man offenbar kaum ein Schaf mehr vom Deich locken. Also ziehen viele politische Schafe, die auf der Durchreise sind, einfach weiter. Die meisten Schafe grasen noch immer auf altvertrauten Deichen – und das werden siemorgen auch noch tun. Sie können auch nicht Aufbruch, sie laufen nicht weg. Sie wissen und vertrauen darauf, dass der gute Hirte in ihrer Nähe bleibt und sie nicht verlässt, nicht bei Ebbe und Flut, und auch nicht im Sturm. Weil sie bleiben, sind sie vielleicht kluge Schafe. Sie bleiben auch gelassen, weil sie ganz genau wissen: Der gute Hirte hütet seine Schafe. Er weidet sie auf grüner Au und auch auf allen Deichen in der norddeutschen Diaspora. Auch wir kennen unseren guten Hirten – das ist Christus.
Das Buch Hesekiel des Alten Testaments deutet das an. Wir lesen im 34. Kapitel: „Meine Schafe irren auf allen Bergen und auf jedem hohen Hügel umhermund über die ganze Erdoberfläche sind meine Schafe zerstreut. Doch da ist keiner, der fragt, und da ist keiner, der auf die Suche geht. … Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe aus ihrer Hand zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Die Hirten sollen nicht länger sich selbst weiden: Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen,sie sollen nicht länger ihr Fraß sein. Denn so spricht GOTT, der Herr: Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um siekümmern.
Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolken Dunkels zerstreut haben. …Ihr seid meine Schafe. Die Schafe meiner Weide seid ihr, Menschen. Ich bin euer Gott – Spruch GOTTES, des Herrn.“ Darauf dürfen wir gläubig vertrauen. Darauf dürfen wir hoffen. Mit Ihm dürfen wir rechnen.
Erinnern wir uns in dieser Stunde, in den Wüsten unserer Zeit, an die Worte unseres emeritierten Papstes Benedikt XVI. Er sagte am 7. Mai 2006 in der Homilie anlässlich einer Priesterweihe im Petersdom: „Die alte Kirche hat in der Plastik ihrer Zeit die Gestalt des Hirten vorgefunden, der ein Schaf auf seiner Schulter trägt. Vielleichtgehören diese Bilder dem Traum nach der Idylle des ländlichen Lebens zu, der damals die Gesellschaft ergriffen hatte. Aber für die Christen wurde diese Figur ganz von selbst zum Bild für den, der aufgebrochen ist, das verlorene Schaf – die Menschheit – zu suchen; das Bild für ihn, der uns Menschen nachgeht in unsere Wüsten und Wirrnisse hinein; das Bild für den, der dieses verlorene Schaf – die Menschheit – auf seine Schultern genommen hat und heim trägt. Es wurde zum Bild für den wahren Hirten Jesus Christus. Ihm vertrauen wir uns an.“