Der 21. November ist das Patronatsfest Venedigs. Verwundert? Das sollten Sie sein: denn schließlich ist doch San Marco (Heiliger Markus) der Patron der Lagunenstadt und hat seinen Festtag am 25. April. Am 21. November hingegen gedenkt die Katholische Welt Unserer Lieben Frau in Jerusalem, früher Mariä Opferung. In Italien ist dieses Fest unter dem Namen der Darstellung Mariens im Tempel bekannt.
Die Serenissima besitzt ein besonderes Privileg unter den italienischen Kommunen: weil der eigentliche Patronatstag auf einen gesetzlichen Feiertag fällt – am 25. April begehen die Italiener den Tag der Befreiung – hat Venedig das Recht, einen anderen Tag zum Patronatstag zu bestimmen. Insgeheim hat Venedig also sogar zwei Patronatstage.
Die Venezianer halten den 21. November aus mehreren Gründen in besonderen Ehren. Da wäre einerseits die Verehrung Mariens selbst. Die Lateinische Welt hat sich mit diesem Fest zuerst sehr schwer getan: während die Praesentatio Beatae Mariae Virginis in der orthodoxen Welt seit der Spätantike fest zum liturgischen Kalender gehört, wurde das Fest von den Päpsten erst im Spätmittelalter festgeschrieben. Dass die alte Handelsrepublik als Scharnierstelle zwischen dem lateinisch-katholischen Westen und dem griechisch-orthodoxen Byzanz für dieses Fest am ehesten zu gewinnen war, ist wohl nur naheliegend.
Venezianische Ausschweifungen?
Die venezianische Malerei und Ikonographie ist demnach reich an Darstellungen. Das Sujet war für Künstler und deren Mäzene kreative Herausforderung wie Erzählung der zeitgenössischen Umstände: denn eine Darstellung der jungen Maria in der Öffentlichkeit, vor dem großen Tempel von Jerusalem, bedeutete auch, dass die Künstler das Volk in breiter Masse malen konnten. Das war insbesondere für die selbstbewussten italienischen Städte eine Möglichkeit, sich selbst in diesen Szenen zu verewigen. Die Venezianer, ob nun tonangebende Patrizier, Handwerker oder Bettler fanden gleichermaßen Verewigung als Volk Christi, die in einem Wiedergänger Jerusalems lebten.
Es wird oft der materielle Charakter und die gottlose Haltung der Venezianer mythisiert, besonders im Gedanken an den IV. Kreuzzug und der zweifachen Plünderung Konstantinopels. Es handelt sich jedoch dabei um eine „schwarze Legende“. In der Tat, die Venezianer nahmen es auch mit dem Papst auf, wenn es sein musste. Das hieß jedoch nicht, dass die Venezianer weniger fromm waren als andere Völker Europas in Mittelalter und Neuzeit.
Es gibt kaum eine Stadt, die über so viele Kirchen mit so reicher Ausstattung verfügt, und vor der Revolution gehörte es zum guten Ton, dass die Patrizier Teile ihres Vermögens an Orden, Konvente, Klöster spendeten. Die reichen geistlichen Institutionen der Stadt hatten ihren Reichtum vor allem deswegen angehäuft, weil ihnen die Venezianer in der Hoffnung auf das eigene Seelenheil reiche Spenden zukommen ließen. Vermutlich kann einzig Rom Venedig in dieser Hinsicht den Rang ablaufen.
Das Selbstverständnis Venedigs und der Venezianer als Erben von Rom, Byzanz und Jerusalem wird demnach auch in der Ikonographie deutlich. Das bedeutendste Werk ist dabei wohl unbestritten die Version, die Tizian liefert. Die Bruderschaft von Santa Maria della Carità gab sie in Auftrag. Jeder, der in Venedig war, kennt deren Sitz: es handelt sich heute um die Accademia, Venedigs berühmte Kunstakademie. Die Bruderschaft gibt es nicht mehr, aber Tizians epochales Wandgemälde findet sich dort bis heute: mitten über zwei Türeingängen, von denen einer kunstvoll in das Bild als Treppenbogen eingearbeitet wurde.
Die kleine Maria ist von einem goldenen Nimbus umgeben, ist der Blickfang auf der Treppe. Während der Hohepriester oben als einziger in den historischen Kontext passt, sind die übrigen Personen ebenso wie die Architektur ganz klar an die Zeit Tizians angepasst. Der Herr neben dem Hohepriester erinnert mit seiner Kleidung eher an einen Kardinal als an einen jüdischen Gelehrten. Die Edeldame unten, die auf die Maria zeigt, ist mit ihrem roten Kleid eher eine italienische Patriziertochter des 16. Jahrhunderts als eine israelische Adelsfrau; ähnliches gilt für das Mädchen am Fuß der Treppe. Die vier Herren über der Türe links sind eindeutig Angehörige der Bruderschaft, von denen einer den Betrachter ansieht, als wüsste er genau, dass er beobachtet wird. Drei schwarz gekleideten Männer umringen eine Gestalt in rotem Gewand – Ähnlichkeiten zu den Vertretern der venezianischen Administration, wie den Dogenberatern oder den Mitgliedern des Rates der Zehn, sind offensichtlich.
Pest in Venedig
Es ist vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet der 21. November ein so wichtiger Tag in Venedigs Geschichte werden sollte – womit wir zum zweiten Grund kommen. 1630 und 1631 tobte eine der schlimmsten Pestwellen der Frühen Neuzeit in Italien. Sie hat sich so sehr in das Gedächtnis des italienischen Kulturgedächtnisses eingegraben, dass noch Alessandro Manzoni eben dieser Katastrophe einen nicht unbedeutenden Teil seines Hauptwerkes – den Promessi Sposi – widmen sollte. Venedig war besonders schwer davon betroffen. Der Doge versprach im Oktober desselben Jahres, der Madonna eine Kirche zu errichten, wenn die Stadt von der Pest befreit würde. Dass sie im November des Folgejahres endete, deuteten die Venezianer als Bestätigung.
Die Dankeskirche ist bis heute eines der Symbole der Republik: Santa Maria della Salute mit ihrer berühmten Kuppel. Der Bau hat Reisende, Künstler und Romantiker inspiriert. Zahlreiche Nachahmer haben sich an ihr versucht – die Dresdner Frauenkirche ist ein Beispiel dafür. Della Salute (Salute heißt Gesundheit) ist ein Musterbeispiel barocker Kunst, die sich aber hier nicht in Schwülstigkeit oder übermäßigen Dekor verliert, als vielmehr Eleganz und Harmonie in Einklang bringt. Ihr Weihedatum war – kaum verwunderlich – der 21. November. Jährlich finden Prozessionen im Gedenken an die Pest und Danksagung für die Rettung statt. Wer das Glück hatte, dergleichen einmal zu erleben, wird sich an hunderte, tausende Kerzen zwischen Wasser und Holz erinnern. Wenn Erhabenheit etwas bedeutet, dann das Lichtermeer in Santa Maria della Salute in den Dämmerstunden des Novembers. Zur Prozession bauen die Venezianer eigens eine Pontonbrücke über den Canal Grande.
Dieses Jahr stand das Fest aber unter einem besonderen Stern. Nicht weißes, sondern rotes Licht dominierte gestern Venedig. Nicht Pesttote, sondern die christlichen Märtyrer der Welt standen im Mittelpunkt. Unter #RedVenice findet man auf Twitter und anderen Plattformen Zeugen des abendlichen Geschehens: Gondeln, die im blutroten Kanal schaukeln, Häuserfassaden in derselben Farbe angestrahlt. Auch die schneeweiße Marienkirche strahlte gestern in der Farbe des Martyriums.
Es ruft in Erinnerung, dass es wohl wieder übernatürlicher Hilfe bedarf, um eines übermächtigen Übels Herr zu werden. Die westlichen Staaten zeigen sich der Christenverfolgung gegenüber desinteressiert. Von ihnen ist offensichtlich keine Hilfe zu erwarten. Im alten Venedig: undenkbar. Fern heute die Tage, da man sich als christliches Volk verstand. Kein Venezianer hätte daran Zweifel gelassen, einer christlichen Republik, einem neuen Jerusalem anzugehören. Den Heutigen ist bereits das real existierende Elend der Mitbrüder auf der anderen Seite egal.
Ein Schuss tizianischer Gemeinschaft täte manchmal nur zu gut …
[…] Dieser Artikel erschien auch auf The Cathwalk. […]