Wo es Linke, Progressive gibt, muss es Rechte, Konservative geben – dürfen. Und sie müssen gleichberechtigt vernehmbar sein im öffentlichen Diskurs, ist Ulrich Greiner, früher Feuilletonchef der Zeitung „Die Zeit“, überzeugt. Die Realität sei eine andere: Das ganze politische Spektrum jenseits der Extremismen, schreibt er in seiner Streitschrift „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“, werde hierzulande medial nicht mit gleichem Maßstab ausgeleuchtet. Dabei bekennt der 72-Jährige, nie CDU noch Liberale gewählt zu haben, sondern vorrangig SPD und Grüne. Spät wurde er konservativ – und macht nun eine Tendenzwende aus in der Bundesrepublik, die zutage trete etwa in der Entstehung von Pegida oder AfD-Wahlerfolgen.
Überall Angst – nicht nur bei Anhängern der „Patriotischen Europäer“, auch in Parteien und der „kommentierenden Klasse in den Medien“, der er selbst jahrzehntelang angehörte. Für letztere stehe die Macht auf dem Spiel, die in der Öffentlichkeit geltenden moralischen Standards zu definieren und ihre Einhaltung zu kontrollieren. Bislang komme dies darin zum Ausdruck, was politisch nicht passe, gern „populistisch“ zu zeihen, obwohl meist „rechtspopulistisch“ gemeint sei. Von Linkspopulismus sei indes kaum die Rede. Zudem werde das Paradigma der multikulturellen Gesellschaft als nicht verhandelbar beworben und Widerspruch in die Nähe des Rassismus gerückt. Als alleiniges Heil der Europäischen Union gelte deren „Vertiefung“. Wer ein Europa der Vaterländer vorziehe, stehe als Nationalist im Abseits. Eine Islamisierung westeuropäischer Gesellschaften – im öffentlichen Diskurs vielfach bloß „Hirngespinst verwirrter Pegida-Anhänger“ statt einer realen Gefahr? Auch das, schreibt Greiner und ärgert sich über das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden. Immer weiter dringe der Staat ins Private vor. Wird bald – der Gefahr wegen – das Motorradfahren verboten?
Greiner lässt seiner und unserer Angst freien Lauf, treibt es mitunter bunt und ist dafür kritisiert worden, seit er 2016 den Artikel „Vom Recht, rechts zu sein“ veröffentlichte, auf den das Buch aufsetzt. Er positioniert sich jenseits politischer Korrektheit und diesseits der AfD, wendet sich in seinem Gesinnungsbuch – denn das ist es – gegen die Moralisierung aller Lebensbereiche (obwohl er zuweilen einer „Moral“ nur eine andere entgegensetzt), bei der aus politischen Gründen ganze Themenfelder ausgespart blieben. Deren Erörterung werde aber von nennenswerten Teilen der Gesellschaft gefordert.
Nicht „Objektivität“ fehlt den Medien, ließe sich seine Kritik zusammenfassen – da, wo sie diese betrifft. „Objektivitiät“ kann es nicht geben. Berichterstattung ist Menschenwerk, nicht das von Maschinen. Welches Thema aufgegriffen wird – wann, von wem, wo, wie und in welchem Umfang, ohne Foto oder mit, auf Seite 1 oder 20 –, ist per se Konsequenz subjektiver Entscheidung. Greiner weiß, dass es darauf ankommt, wer sie trifft. Er will Chancengleichheit dafür, dass der konservative Blick ähnlich ernsthaft sichtbar wird wie der progressive. Wo eine Weltsicht verzerrt dargestellt werde oder gar nicht und „die tonangebende Klasse auf ihren mäßigenden, zivilisierenden Einfluss“ verzichte, indem sie etwa zur Migrationsfrage keine offene Diskussion führe, sänken „ernste Fragen“ auf den „sprachlosen Grund des Unverstandenen“. Der „nicht selten braun“ sei.
Dann aber verlören alle, auch die Eliten: Rückhalt, Wählerstimmen, Auflage. Linke Intellektuelle wie Didier Eribon oder Edouard Louis haben am französischen Beispiel längst konsterniert diagnostiziert, dass sich die „kleinen Leute“ (nicht nur die) abwenden von „ihren“ angestammten Parteien. „Jede Parteineugründung … ist ein Zeichen des Ungenügens der alten Gruppierungen“, schrieb aber schon 1931 der jüdische Politologe Sigmund Neumann.
Sind also die heutigen Hassorgien im Netz wider „den Mainstream“ die Rache jener, die sich hilflos, jedenfalls sprachlos wähnen? Will da wer nicht länger vor allem Empfänger von Nachrichten mit eher enger Weltdeutung sein, sondern auch Urheber mit eigenen Themen wider Beschleunigung, Rationalisierung, Entgrenzung – Ohnmacht?
Greiner wünscht sich darüber Streit in der Sache. Dass dabei die realistische Gefahr besteht, einen engen Deutungskanal nur gegen einen anderen ebenso oder noch engeren zu tauschen, statt den bestehenden zu weiten, liegt auf der Hand, taugt aber nicht als Ausrede dafür, die Weitung nicht zu versuchen. Der Journalist hofft zudem auf „mehr“ Achtung hiesiger Tradition, Geschichte, Kultur und Interesse an der christlichen Religion. „Wichtig ist, was immer ist“, so einst der Philosoph Robert Spaemann.
Greiner will Verständnis dafür, dass Demokratie kompliziert ist und die Auseinandersetzung mit ihrer Funktionsweise zwar anspruchsvoll, doch ein Wert an sich. Die Nationalstaaten hält er für eine Errungenschaft, deren Existenz nicht überholt sei. Europa soll zudem „Abendland“ bleiben – mehr als eine geografische Kategorie. Wer seinen Vorstellungen mit Maß politisch Nachdruck verleihen soll, weiß der derzeit Heimatlose aber nicht.
Ulrich Greiner: Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen, Rowohlt-Verlag, 160 Seiten, 19,95 Euro.
Dr. Michael Kunze (*1982) ist Journalist, Autor, Blogger, Zeitzeuge. Beiträge für Hörfunk und Zeitung (u.a. FAZ, FAS sowie Die Tagespost) zu Politik, Kultur/Feuilleton, Wirtschafts- und Wissenschaftsthemen, Lokalem. Interesse an Kunst, Literatur und Mode, klassischer Gitarrenmusik von Hans Neusidler bis John Dowland, Politik, Sakralarchitektur und (katholischer) Theologie. Zuletzt erschien: "Sigmund Neumann – Demokratielehrer im Zeitalter des internationalen Bürgerkriegs", Berlin 2015. Homepage: www.michael-kunze.net