Man muss nicht HBO schauen, oder die Bücher aus der Hand von George R. R. Martin lesen, um vom Phänomen „Game of Thrones“ gehört zu haben. Es reicht bereits, auf dem eigenen – eher mittelmäßigen – Email-Anbieter mit Nachrichten darüber torpediert zu werden, was in der neuen Staffel rund um Martins Fantasy-Welt geschieht. Ach was, Email-Anbieter – selbst die einst ehrwürdige FAZ spekuliert, was als nächstes im Kampf um jenen Eisernen Thron geschieht, um den sich die Völker, Familien und Adligen von Westeros streiten.
Martins Version des phantastischen Mittelalters handelt von politischen Ränkespielen, Bastardsöhnen, Drachen – und viel nackter Haut. Viel, viel nackter Haut und ausgelebten sexuellen Phantasien, die das Barbarische und Animalische, kurz: das Triebhafte und Primitive im Menschen ebenso ins Extreme ziehen wie es Neid, Habgier und Mord auf einer anderen Ebene exerzieren. Unter Verwandten wird gestritten, gehasst, gemordet – und sogar der gemeinsame Koitus ausgeübt.
Die Crux in Westeros besteht darin, dass, weil nahezu jeder Charakter seine Schattenseiten hat, ein jeder auch dem völlig Zügellosen und Bösen verfällt, wenn es seinen Zielen dienlich ist. Die Noblen, die Aufrechten, die Ehrenhaften und Treuen sind die ersten, die sterben. Martin schreckt nicht davor zurück, beliebte Charaktere für eine gute Story zu opfern. Er ist dabei nicht minder kalt als seine Protagonisten, die im Kampf um die Macht über Leichen gehen. Ein großer Teil der Faszination von Martins Werk liegt darin, dass es völlig unberechenbar erscheint. Hauptcharaktere sterben plötzlich. Neue Helden, neue Antagonisten treten auf. Die erfolgreichsten Charaktere wechseln im richtigen Moment die Seiten oder ändern ihre Prioritäten – weshalb es weiter unmöglich bleibt, abzusehen, was als nächstes kommt.
An diesem Punkt mag man mein Intresse für diese Serie verstehen. Als Machiavellist ist diese Geschichte ein Fest. Der Teufel aus Florenz würde sich die Hände reiben, ja, seine Theorien nicht nur bestätigt – sondern sogar Teile seines Werkes plagiiert sehen. So kam es – Achtung, hier wird der Plot verraten! – unter Fans der Sendung zum Entsetzen, weil bei einer Hochzeit einfach mal das Gefolge einer feindlichen Partei ausgerottet wurde, obwohl das Gastrecht als eine der wenigen heiligen sozialen Normen in Martins Welt galt.
Für den Renaissancemenschen kommt die Szene dagegen überhaupt nicht überraschend: ähnliches inszenierte niemand Geringeres als Cesare Borgia im Jahr 1502/1503. Der Fürst hatte in seinen Feldzügen große Gebiete Mittelitaliens unterworfen; ein Wespennest aus dutzenden kleinen Herrschaften, wo jeder Adlige mit dem anderen stritt und man sich folgerichtig gegen Borgia verbündete, um die eigene Unabhängigkeit zu wahren. Unter dem Vorwand der Freundschaft und eines gemeinsamen Festes lud der gefährlichste Mann der Halbinsel die höchsten Herren seines Reiches ein – und ließ sie allesamt in einer Nacht massakrieren. Die Silvesternacht von Senigallia galt gleichzeitig als Meisterstück der Macht, da sich Borgia in wenigen Stunden nicht nur seiner gefährlichsten Feinde entledigte, sondern damit ein lange politisch zerklüftetes Gebiet mit starker Hand einte. Machiavelli bezeichnete den Massenmord sogar als größte Leistung des Herzogs von Valentinois – wie man Cesare Borgia ehrfürchtig nannte – und schrieb über diese Tat sogar ein eigenes Traktat, um auch noch zukünftige Herrscher darüber zu belehren, wie man sich der Herrschaft in einem unsicheren Gebiet versicherte.
Martins Fantasy ist daher im Grunde keine klassische Fantasy, sondern findet ihre Vorbilder eher in den Fehden der Italienischen Renaissance und im Englischen Rosenkrieg. Letzteres wird schon am Klang der Familiennamen deutlich; historisch kämpften in England die Dynastien York und Lancaster um die Macht, in Westeros sind es die Häuser Stark und Lannister. Zudem existiert eine große Mauer im Norden des Kontinents, die vor (noch?) barbarischeren Völkern schützt. Der Hadrianswall lässt grüßen – wenn auch historisch zeitversetzt.
Hier setzt dann auch der „Mythos“ ein: denn heute leben vor allem die Bilder des ruchlosen Cesare Borgia, der rumhurenden Lucrezia und – auf englischer Seite – des tyrannischen Richards III. weiter. Das Spätmittelalter und die Renaissance gelten bereits seit Cervantes‘ Don Quixote als Niedergang des edlen Ritters, der im Feuerhagel der Musketen sein Leben verliert; eine unehrenhafte Art des Todes, unehrenhaft wie die zwielichtigen Herrscher, die eben ganz auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Machiavelli hat diesem Zeitalter im Nachhinein nicht zuletzt auch durch sein Werk den Stempel aufgeprägt.
Es ist weniger wahrscheinlich, dass ein amerikanischer Fantasy-Autor vor der Niederschrift seiner Bücher breit angelegte historische Studien tätigte. Aber Bilder, Mythen und nicht zuletzt die Shakespeare’schen Dramen leben weiter. Mögen es nur Fragmente sein, jeder Autor weiß, dass gute Ideen nicht verloren gehen, anders aufgegriffen werden, womöglich auf originelle Art und Weise; wie auch immer, die Welt Martins ist ein machiavellistischer Renaissancealptraum, in der Seite für Seite das Prinzip des Principe bestätigt wird. Ob beabsichtigt oder nicht.
Und nebenbei: Machiavelli selbst war auch ein erfolgreicher Dramatiker, in dessen bekanntestem Werk – Mandragola – es beinahe ausschließlich um die Kunst des Betrugs und der Verführung einer Frau geht. Schon bei Machiavelli gilt der Beischlaf nicht nur als Belohnung für die angewandte List, sondern auch als Ausdruck der eigenen Machtposition.
Die nächsten Verwandten von „Game of Thrones“ sind daher auch nicht so sehr bei Tolkiens Hobbits, Elben und Orks zu suchen, sondern vielmehr in den Serienkonzepten von Sendungen wie den „Tudors“ oder den „Borgias“. Auch dort überwiegt Sex und Machiavellismus gegenüber dem eigentlichen Genreinhalt. Glaubt denn jemand tatsächlich, die Zuschauer der Borgias interessierten sich dafür, was um 1500 so in Italien passierte? Manzoni, der Urvater des italienischen Historischen Romans, der ein ganzes Kapitel nur der in Mailand wütenden Pest widmete, hat mit diesen Historienserien ebenso wenig gemein wie der britische Gentleman Tolkien mit der Sendung auf HBO.
Womit wir beim großen Thema wären.
Der Kult um Martins Bücher – und vor allem die darauf basierende TV-Serie – fordert den eigentlichen Herrn der Fantasy heraus. J. R. R. Tolkien, der dieses Genre in seiner heutigen Art erst begründet hat, erscheint als völliges Gegenbild zu dieser „modernen“ Variante eines fiktiv erdachten Universums. Denn obwohl sich alle Fantasy-Autoren an Tolkiens Basis bedienen, es also Rösser, Sagenwesen, mittelalterliches Schlachtgetümmel, Burgen und Höfe gibt, scheint der innere Kern nicht kontrastreicher ausfallen zu können. Der Schöpfer des „Herrn der Ringe“, des „Hobbits“ und des Silmarillons erfährt heute besonders von den Martin-Anhängern weitreichende Kritik.
Wir müssen hier aus postmoderner Sicht ganz ehrlich sein. Kein Verlag würde den Herrn der Ringe heute mehr verlegen.
Das hängt bereits mit Tolkiens Prosa zusammen, welche Liebhaber bis heute als jene Klangwellen und Melodien wahrnehmen, auf welcher der mythische Kontinent Mittelerde schwimmt. Tolkien wollte im wahrsten Sinne ein Epos schaffen; Sprache spielte für ihn, den großen Professor der Philologie, der sich mit den alten Zungen Skandinaviens und Britanniens beschäftigte wie kein zweiter, eine umfassende Rolle. In der Tat muss man Tolkiens Universum von der Sprache her verstehen; zuerst schuf Tolkien die Sprache mit ästhetischem Klang, und als er sah, dass sie gut war, schaffte er die Völker und Erdenteile dazu.
Allerdings handelt es sich dabei um eine Arbeit, die heute wohl kein Lektor anerkennen würde. Zeitgenössische Romane zehren vom „Show, not tell“, heißt, Bücher sollen filmisch zeigen was geschieht, statt großväterlich zu erzählen. Und das so präzise, knapp und klar wie möglich. In Zeiten, in denen ein Roman von Thomas Mann mit einseitigen Bandwurmsätzen als unlesbare Überforderung erscheint, kann ein auf Bestseller fixiertes Unternehmen kaum das Wagnis riskieren, ein Sprachprojekt wie Tolkiens Welt als Testballon aufsteigen zu lassen.
Martin dagegen spricht die Sprache der heutigen Medienwelt perfekt. Sie ist einfach, deutlich und auf den Punkt. Seine wahre Meisterschaft zeigt sich in den Dialogen. Mit einzelnen Sätzen spricht er oftmals Motivationen, Absichten und Hintergründe aus, wozu andere Autoren mehrzeilige Gespräche benötigen. Dem Amerikaner kommt dabei seine jahrelange Erfahrungen mit Drehbüchern zupass; in der Tat, das „Lied von Eis und Feuer“ ist gewissermaßen nichts weiter als ein Drehbuch, an das man all das heftete, was man im Film nicht zeigen kann. Gedanken, Hintergrundinformationen, historische Begebenheiten und vieles mehr. Nebencharaktere, die woanders nur als Fußnote vorkommen, können hier Raum fassen.
Tolkien muss schon deswegen verlieren, weil sein Stil nicht mehr in eine Zeit passt, die von sozialen Medien mit 140 Zeichen dominiert wird. In den 30er Jahren war es eben noch kein Fauxpas, sich auch einmal ins Langschweifige zu verirren, oder einfach die Sprache der Sprache Willen zu Wort kommen zu lassen. Die Dialoge wären aus heutiger Sicht eine Katastrophe. „Da kann man kürzen!“ hört man bereits den Regisseur im Hintergrund. Eben das geschah auch reichhaltig mit den Schnörkelpfaden Tolkiens unter der Leitung Peter Jacksons, der das Fantasy-Spektakel in Neuseeland aufnahm.
Wo wir schon bei der Haupthandlung, also dem eigentlichen Plot sind: während man bei Martin in all den Intrigen oftmals gar nicht mehr weiß, was als nächstes kommt, erscheint die Geschichte des Altmeisters sehr einfach gestrickt. Sie ist im besten Sinne eine Saga oder mittelalterliche Âventiure; gleich den Rittern der Tafelrunde müssen die Gefährten zugunsten eines magischen Artefaktes unendliche Mühsale auf sich nehmen. Der spannende Unterschied: der „Eine Ring“ Tolkiens ist das genaue Gegenteil des Heiligen Grals. Er ist das Geschenk des Teufels, das die Geschöpfe Mittelerdes verführt. Dieser Teufel ist Sauron, der in der Tat ein übermenschliches Wesen ist und in vielen Belangen dem christlichen Höllenfürsten ähnelt.* Machtstreben ist nicht der Sinn der Herrschaft wie in Westeros; wer der Macht dient, läuft stattdessen am ehesten Gefahr, dem dunklen Herrn der Ringe zu verfallen.
Wir nähern uns hier einem der wichtigsten Merkmale, die Tolkiens Wunderwelt von Martins Thronintrigen scheidet. Der Philologe Tolkien verarbeitete nicht nur den Stoff der großen europäischen Epen und Sagen, bei denen besonders König Artus und die Nibelungen in den Sinn kommen; er übernahm auch deren psychologische Muster, deren Archetypen und damit zusammenhänge Allegorien. Man wirft Tolkiens Charakteren eben dies vor: die mangelnde Charakterschärfe, die fehlende Originalität, die holzschnittartige Zeichnung.
Es ist dies aber kein schriftstellerischer Mangel, wie heute oftmals moniert, sondern vielmehr absolut logisch in einer Welt, die auf dem Urstoff europäischen Kulturbewusstseins fußt. Tolkien hat gerade durch seine Adaptionen der alten Heldensagen auch ihr Innerstes mitgenommen; heißt, wir treffen auf den Thronfolger, der gegen alle Widerstände sein rechtmäßiges Reich erobern muss; auf den geheimnisvollen, weisen Alten, der die Jungen auf ihren Dienst vorbereitet; auf den treuen Freund; den tyrannischen Herrscher. Das sind Konzepte, wie wir sie bei Dietrich von Bern, Artus, den Nibelungen – aber eben auch in Star Wars wiederfinden. Intuitiv verbinden wir bestimmte Charaktere mit Urbildern, assoziieren sie mit Fähigkeiten und Gesichtern. Deshalb sind diese „simplen“ Figuren oftmals so erfolgreich.
Ein Beispiel? Die Merlinsgestalt, die wir bereits im antiken Epos als alten Nestor kennenlernen, und innerhalb der heutigen Popkultur als den Zauberer Gandalf, den Mittelalter-Detektiv William von Baskerville oder den Jedi-Meister Obi-Wan Kenobi sofort wiedererkennen.
Tolkiens Werk lebt vom Mythos und im Mythos; daher erklärt sich auch die Liebe zu Symbolen. Der Weiße Baum von Gondor ist eben mehr als nur ein Baum; er symbolisiert die Kontinuität des menschlichen Königtums und dessen Abstammung; ähnlich ist der Ring das Zeichen von Macht und Verführung; und ebenso hat jede wichtige Waffe im „Herrn der Ringe“ eine eigene Geschichte und Bedeutung. Bei Martin sind die Symbole der Herrschaft praktisch zu verstehen; Tolkien dagegen erhebt jedes seiner Zeichen zu einem Stück einer größeren Botschaft, eines versteckten Mythos‘ und letztlich zum Ideal des jeweiligen Gegenstandes.
Dabei ist wichtig festzustellen: Tolkien verachtete Allegorien. Vielmehr spielen Prinzipien und Motive eine Rolle, die wir aus der europäischen Kulturgeschichte kennen. Frodo erlebt mit der Last des Rings eine Via Dolorosa, ist aber ebenso wenig als Christus zu verstehen wie Gandalf, der von den Toten zurückkehrt; ebenso hat Aragorn Anleihen eines messianischen Friedenskönigs, der die Welt wieder in Ordnung bringt, ohne dieser König im Wortsinn zu sein. Tolkien selbst gab in einem Brief an Robert Murray zu, dass die Elben-Königin Galadriel in ihrer erhabenen und reinen Art von der Gottesmutter Maria inspiriert sei – was nicht zuletzt an ihrem Beinamen Jungfrau, gekrönt mit schimmerndem Haar, deutlich wird:
I think I know exactly what you mean by the order of Grace; and of course by your references to Our Lady, upon which all my own small perception of beauty both in majesty and simplicity is founded.
Tolkien räumt der Seele hinter den Dingen Platz ein. Der Herr der Ringe ist eben nur eine Geschichte aus Mittelerde, die Facette eines brillierenden Kristalls.
Das Lied von Eis und Feuer dagegen ist der Kristall.
Böse Zungen könnten behaupten, dass das, was Tolkien bei der Charakterbeschreibung vermissen lässt, in lexikonähnlichen Artikeln und Bänden staute. Aber auch der Vorwurf eines charakterlichen, reinen Gut-Böse-Schemas stimmt nicht völlig. Natürlich existieren im Herrn der Ringe nur zwei Seiten: jene, die sich mit dem Bösen, also Sauron verbünden, und jene, die sich diesem übermächtigen Feind entgegenstellen.
Wie sich aber die handelnden Akteure aufstellen, ist ihnen überlassen. Gollum, jenes Geschöpf, das völlig dem Ring verfallen ist, sogar im Rausch der Verführung seiner eigenen Identität als Hobbit verlustig geht, ist dabei das beste Beispiel, dass Tolkien die Frage nach der Gräue austarierte. Die Zerrissenheit von Gollum zwischen einer möglichen Freundschaft zu den beiden Hobbits Frodo und Sam, sowie dessen Sehnsucht nach dem Ring, den Frodo bei sich trägt, lässt für einige Szenen die Frage völlig offen, ob Gollum „gut“ oder „böse“ ist; seine Wahl, die Hobbits zu verraten, lässt ihn ins Lager der Bösen wechseln und nicht etwa, weil er per se darin zu verorten ist.
Ein anderer Fall betrifft das Brüderpaar Boromir und Faramir, die Söhne des Truchsesses von Gondor. Boromir, von seinem Vater geliebt, begleitet die Gefährten auf ihrer Reise, verfällt aber dem Ring und bringt das ganze Unternehmen in Gefahr. Auch hier ist es Schwäche, nicht Bosheit, die Boromir vom rechten Weg abkommen und zuletzt sogar an seinem Fehler sterben lässt. Faramir dagegen, der in den Augen des Vaters nur die zweite Rolle spielt, erweist sich als weitaus würdigerer Erbe seines Hauses, da er dem Ring entsagt – obwohl er die Möglichkeit hat, diesen ebenfalls an sich zu reißen.
Wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat: Tolkien war überzeugter Katholik. Und gerade diese moralische Sichtweise, die Freiheit der Menschen, sich zu einer Seite zu bekennen, darf genau als typischer katholischer Einfluss gelten wie etwa der Gedanke, dass Mythen keine Lügen sind, sondern Wege, um die Wahrheit zu verdeutlichen** – im Übrigen ein Streitpunkt zwischen ihm und dem Schriftstellerkollegen C. S. Lewis. Im Gegensatz zu Westeros, wo der Zweck die Mittel heiligt, wenn es um die Macht geht, ist in Mittelerde die Frage um Macht und Moral ein äußerst sensibles Thema.
The Lord of the Rings is of course a fundamentally religious and Catholic work; unconsciously so at first, but consciously in the revision.
… schreibt Tolkien in seinem Brief an Murray direkt nach der oben erwähnten Marienpassage. Das erscheint für viele, die vielleicht das Fantasy-Genre, den Herrn der Ringe oder den Hobbit kennen, aber nicht die Person Tolkiens, auf den ersten Blick verblüffend; ein Kritikpunkt an der Fantasy war ja seit ihrer Schaffung das Dämonische und Okkulte, was auch von christlichen Glaubensvertretern oder – wie jüngst – Lehrbeauftragten immer wieder unterstrichen wurde. Wer aber den Herrn der Ringe genauer liest, merkt, dass ihm eine zutiefst christlich-katholische Moral innewohnt.
Die schärfste Trennlinie zwischen Westeros und Mittelerde erfolgt in der dahinter stehenden Weltanschauung. Westeros ist auf den eigenen Vorteil bedacht: ob bezüglich der eigenen Macht oder der sexuellen Vergnügungen. Das hat oft zu Aussagen verleitet, Martins Fantasy-Entwurf sei „authentischer“ oder „realistischer“; das ist er mitnichten. Er ist nur materialistischer. Deswegen ist verständlich, weshalb der Zeitgeist mit „Game of Thrones“ weitaus mehr anfangen kann. Die heute als egoistisch wahrgenommene Welt findet sich dort viel stärker wieder. Sie ist – im theologisch-philosophischen Sinne – in der Tat „die Welt“, also zutiefst weltlich, ohne Hoffnung darauf, dass Ideale sich tatsächlich erfüllen können oder Tugenden zwangsläufig belohnt werden.
Wo es kein immanentes Böses, keinen Teufel wie Sauron gibt, existiert auch kein Gott; außer der menschengemachte von Macht und (nicht nur sexuellem) Konsum.
Mittelerde indes ist ein zutiefst spiritueller Ort. Auf den ersten Blick erscheint dies absurd, denn der Katholik Tolkien geht niemals auf eine Religion, Riten oder Opfer in seiner eigenen Welt ein, die im Grunde stark von der nordischen Saga inspiriert ist. Die Abwesenheit der organisierten Religion spielt jedoch keine Rolle, wenn man sich vor Augen führt, dass Spiritualität in Tolkiens Werk durch die Schöpfung und ihre Charaktere lebt.
Gandalf ist im besten Sinne ein (Schutz)Engel, ein überirdischer Begleiter mit einer Mission. Immer wieder unterstreicht er, dass auch kleinste Taten eine Wirkung auf das Geschehen haben; dass es nicht darauf ankommt, die ganze Welt aus den Angeln zu heben, dass es nicht die Großen und Mächtigen sind, sondern die oftmals als gering erachteten Menschen, welche die Welt in den Fugen halten. Man mag an das Kind im Stall denken, dass Gott eben so groß ist, dass er sich ganz klein machen kann. Und dass die kleinwüchsigen Hobbits, die so lächerlich und mickrig im Gegensatz zu den scheußlichen Orks oder den schönen Elben gelten, mit ihrer Mission, nämlich der Zerstörung des Rings und seiner Macht, eben diesen Menschenschlag repräsentieren. Sie sind im besten Sinne Märtyrer: Personen, die für ihre Überzeugungen einstehen und bereit sind, mit ihrem Leben zu bezahlen.
Wo wir schon bei Orks und Elben waren: hier zeigt sich ein weiterer Baustein von Tolkiens Philosophie. Das Böse als solches ist zwar immanent, aber es existiert nicht aus sich selbst heraus. Die Orks sind eine Korrumpierung der Elben; Gollum ist ein korrumpierter Hobbit; selbst der Erzbösewicht Sauron war ein Maiar, jene überirdische Kategorie, der auch Gandalf angehört – und damit ein gefallener Engel. Die Schöpfung Tolkiens ist im Grunde gut. Wer sich aber gegen den Plan des Schöpfers entscheidet, tut dies aus eigenem Willen und bekennt sich damit zum Bösen. In dieser Hinsicht ist der Herr der Ringe auch kein dualistischer Kampf, da die Bösen physisch wie psychisch nur verirrte Formen sind.
Dass die korrumpierten Lebewesen im Übrigen das von den Elben gebackene Brot Lembas – das in der Elbensprache Quenya übersetzt „Brot des Lebens“ heißt – verabscheuen, lässt übrigens noch an ein ganz anderes Brot denken, welches die Dämonen der Welt nicht antasten mögen.
Ich betone es nochmals, um Irrtümer zu vermeiden: Sauron ist nicht der Teufel, das Elbenbrot ist nicht die Kommunion. Aber die Punkte zeigen die spirituelle Dimension des Buches auf, die erst bei einem zweiten Durchblick offenbar wird – und die Martin komplett fehlt. So schlimm auch die Herausforderungen für die Protagonisten sein mögen, innerlich vibriert die christliche Hoffnung auf Erlösung – ohne, dass diese vollständig ist.
Wer denkt, dass Tolkiens Buch damit endet, dass das Gute gegen das Böse vollständig triumphiert, irrt. Mittelerde ist bereits ein untergehender Kontinent. Die Elben wandern aus, die großen Zeiten der Zwerge sind vorüber, die meisten Menschenstädte sind Ruinen. Die wenigen Zeichen der Zivilisation sind Reste dessen, was einst war. Der Herr der Ringe ist kein Disney-Märchen. Das Gute wird immer wieder vom Bösen herausgefordert; und Tolkien, ganz Historiker, wusste, dass es auf Erden kein Ende der Geschichte geben würde, dass Erlösung immer transzendent ist. Das Paradies, in das Gandalf und Frodo am Ende einkehren, indem sie „nach Westen fahren“, liegt außerhalb Mittelerdes – unerreichbar für die meisten Wesen.
Wer also Martin und Tolkien vergleicht, gar Martin diesen „Kampf“ gewinnen lässt, übersieht, dass, nur weil in zwei Geschichten Ritter, Drachen und Magie auftauchen, diese nicht unbedingt vergleichbar sein müssen. Tolkien schöpft aus der alteuropäischen Literatur, aus dem Mythos, aus den Tiefen der linguistischen Philosophie, spirituellen Überzeugungen und zuletzt persönlichen Lebenserfahrungen. Er steht der deutschen Romantik, Homers Epen und den Canterbury Tales näher als dem, was heute landläufig als „Fantasy“ bezeichnet wird. Zeitlose Prinzipien gelten hier mehr als der bloße Effekt.
Martin dagegen ist bereit, für einen guten Cliffhanger jederzeit einen Hauptcharakter umzubringen; machiavellistisch-berechnend, wie es seine eigenen Erfindungen sind. Die simple Kosten-Nutzen-Rechnung unserer Zeit, die allem Heiligen, allem Spirituellen entsagt zugunsten der Welt – wird hier greifbar. Es existiert keine Hoffnung auf Belohnung; Hoffnung, das ist – wie Thukydides, der Vordenker Machiavellis, feststellte – nur ein bloßes Trostmittel.
Letztendlich sind beide Autoren mit ihren Werken Facetten des Seins. Auf der einen die Suche und Vermittlung von Wahrheit durch Mythen; auf der anderen die knallharte, brutale Welt. Tolkien spielt mit der Faszination des Schönen und Guten; bei Martin ist es die Faszination des Unmoralischen und Triebhaften. Überspitzt mag man zusammenfassen: Tolkien spricht das Beste, Martin das Schrecklichste in uns an.
Den Kritikern Martins werfe ich entgegen: ein Autor, der es schafft, Geschichten mit mehreren hundert Seiten (in Angelsaxonien sind meistens zwei Bände zu einem zusammengefasst) in einer neuen Zeit des Analphabetismus zu verkaufen und einen Plot über diese Längen weiterhin spannend und unterhaltsam zu schreiben, ohne seine Leser dabei zu verlieren, und immer wieder zu überraschen – der macht etwas richtig, der versteht sein Handwerk. Man mag den Inhalt nicht mögen, ihn vielleicht als trivial, womöglich als Tolkien-Travestie empfinden. Das ändert nichts daran, dass es einiges an Kreativität, Fleiß und Talent abnötigt, dergleichen in heutigen Zeiten noch zu bewerkstelligen.
Denen jedoch, die Tolkien kritisieren, sei gesagt, dass alle – ob Martin, Pratchett oder wer auch immer in diesem Genre – auf einem Berg steht, den Tolkien in unendlicher Fleißarbeit mit Kieselsteinen aufgeschichtet hat. Die Schöpfungshöhe fällt damit eher schon ins Genialische, als nur ins Kreative. Und: Tolkien ist nicht naiv, sondern im Gegenteil weise. Er hat eine Botschaft. Und er ist ein Romantiker gewesen, in einer Zeit, in welcher der Fortschritt eben jene ländlichen Gebiete Englands verwüstete, wo er seine Kindheit verbrachte; ähnlich, wie auch seine Geschichten das Alte und Ewige bewahren, es eben keinen Fortschritt gibt, sondern das Bewahrenswerte, Heilige und Gute.
Das ist ein Weg, den Martin erst noch gehen muss. Tolkiens Welt existiert und fasziniert bald schon hundert Jahre. Ob Martin ebenso im Gedächtnis bleibt, oder sich das Lied von Eis und Feuer als Romanreihe nur als Ereignis entpuppt, das erfolgreich war, weil es den Zeitgeist bediente; das muss die Geschichte selbst zeigen. Heute, da „Game of Thrones“ alles bietet, wonach die westliche Gesellschaft dürstet, und ein Lebensgefühl analysiert, in dem nichts sicher, nichts verlässlich, alles zum eigenen Nutzen herhalten muss… erscheint es als offensichtlich, dass diese „neue Art der Fantasy“ auch einem breiten Publikum gefällt.
Erfahrungsgemäß haben aber meistens nur die Geschichten ewigen Wert, die auch ein Stück weit ewige Botschaften enthalten.
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*Bester Theodred, ich weiß, dass Sauron eigentlich weniger der Teufel, als der beste Diener des Teufels war, und nach dessen Sturz dessen Position übernahm; aber wir wollen dergleichen nicht überstrapazieren.
**Letzteres war auch ein beliebtes Mittel der italienischen Renaissancekunst.
Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.
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