Von Hannes Kirmse
Wenn man um fünf Uhr morgens von der erhebenden Melodie Henry Purcells „See see, we assemble“ und dem anschließenden durchdringenden Ruf „Bonjour! Il est cinq heures. Il est temps de se lever!“ geweckt wird, dann weiß man, daß man sich auf der Pfingstwallfahrt zum Schleier der Gottesmutter nach Chartres befindet. Man spricht sein Morgengebet und beginnt sich notdürftig zu waschen, um dann seine Sachen zusammenzupacken und sich wieder in sein Chapitre einzuordnen, um den Marsch fortzusetzen. Die Blasen und Schwellungen an den Füßen, von denen man sich im nächtlichen Zeltlager nicht wirklich erholen konnte, versucht man dann bestmöglich auszublenden, denn man weiß, was an Strecke noch ansteht, um dann endlich das Ziel zu erreichen.
Ich mußte möglichst rasch das Österreicher Chapitre St. Leopold wiederfinden, dem ich mich angeschlossen hatte. Hier liefen Jugendliche, die für den Lebensschutz aktiv sind, aber auch Verbindungsstudenten und überraschenderweise verhältnismäßig viele zum Katholizismus übergetretene Konvertiten. Uns schloss sich das Schweizer Chapitre an, das nicht nur durch seine besondere Dialektfärbung auffiel, sondern auch durch ihre energischen Litaneien, die sie über mitgeführte Lautsprecher verstärkten und die sie jedes Mal mit einem jubelnden „Viva! Viva Cristo Rey!“ abschlossen.
Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt, eine Momentaufnahme von insgesamt gut an die 10.000 jungen Pilgern, begleitet von etwa 250 Priestern, die sich über drei Tage auf den Weg machten. Es ist daher nicht vermessen, von einem wahrhaftigen Pilgerstrom zu sprechen, der sich ausgehend von Paris durch die französische Landschaft der Beauce zog. Eben dieser Pilgerstrom, der im laizistischen Paris Chapitre für Chapitre seinen Anfang nahm, muß für viele Umstehende ein regelrechtes Skandalon gewesen sein. Eine Passantin, die gerade die Straße überqueren wollte, fragte mich leicht verstört: „Aber ich bitte Sie, warum defilieren Sie hier?“, woraufhin ich sie freundlich darauf hinwies, daß es sich hier um eine Pèlerinage, eine Wallfahrt handelt.
Es ist aber auch dieses Land Frankreich, das von der Gottesmutter besonders geliebt wird. Catherine Labouré sah sie 1830 in der Pariser Rue du Bac, in der ihr die Herstellung der wundertätigen Medaille aufgetragen wurde und 1858 erschien sie dem aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Mädchen Bernadette Soubirous, das die Grotte von Lourdes mit ihrer reichen Wasserstelle weltweit berühmt werden ließ. Und bereits im Frühmittelalter übergab der römische Kaiser Karl der Kahle Chartres eine heilige Reliquie – die Sancta Camasia, ein Fragment jener Tunika, die Maria trug, als ihr der Verkündigungsengel erschienen ist. All diese erfahrenen Wundergaben verlangen uns auch heute eine tiefe Frömmigkeit ab, damit wir imstande sind, das Eindringen der Gnade Gottes in die Welt auf sensible Weise festzustellen.
Die Kathedrale Notre-Dame von Chartres bezeugt jenen unerschütterlichen Glauben. Der Bildhauer Auguste Rodin bezeichnete sie als die „Akropolis Frankreichs“ und wollte damit wahrscheinlich auf die Langlebigkeit dieses Ortes hinweisen. Keine Macht der Welt könnte ihm den sich hier offenbarenden Sinn nehmen. Auch in den nächsten Jahrhunderten werden sich noch die Pilgerscharen in die Richtung südwestlich von Paris aufmachen, um das zu schauen, was von dem Zeugnis ablegt, was im Grunde nicht von dieser Welt ist: das Wunder der Jungfrauengeburt.
Der französische Autor Michel Houellebecq lädt mit seinem vielbeachteten Romanwerk „Soumission“, zu Deutsch „Unterwerfung“ nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum weiteren vertiefenden Nachlesen ein. Eine zentrale Rolle nimmt bei ihm der im 19. Jahrhundert wirkende Romancier Joris-Karl Huysmans ein. Dieser beschrieb die Kathedrale als ein „Gedicht in Stein“ und tatsächlich findet sich hier alles gotisch verdichtet und wie ein Fels in der Brandung. Das besondere Blau als Zeichen für die Gottesmutter in den Kathedralfenstern besitzt eine unbeschreibliche Intensität und Strahlkraft. Viele Künstler und auch Wissenschaftler haben immer wieder versucht, diesen Farbton nachzuahmen, was regelmäßig scheiterte. Dieses Blau von Chartres behält sein Geheimnis für sich. Es ist in seiner Einzigartigkeit so etwas wie der sinnlich wahrnehmbare Ausdruck des Kirchengrundsatzes „Extra ecclesiam non salus est“. Wer dieser Farbe ansichtig wird, erhält einen Eindruck von der Strahlkraft, die auch die Lehre der Kirche besitzt.
In seinem Chartres-Werk „La Cathédrale“, das sein größter Erfolg gewesen ist, schreibt Huysmans: „Und über der gleichgültig gewordenen Stadt wachte allein die Kathedrale und bat um Gnade für die Gefühlskälte und Glaubenslauheit der Bürger, reckte ihre beiden Türme wie zwei Arme in den Himmel, formte mit ihren Glockentürmen zwei gegeneinander gelegte, gefaltete Hände mit gestreckten Fingern und erinnerte so an die Geste, die die Bildhauer früherer Zeiten den Heiligen und den toten Kriegern auf ihren steinernen Sarkophagen verliehen haben.“ Er beschreibt hier keine tote, unpersönliche oder nichtssagende Architektur, sondern vielmehr eine, die in tiefgreifender Weise inspiriert und die einen zunächst den Atem anhalten lässt, wenn man nach drei Tagen Fußmarsch endlich am ersehnten Ziel angelangt ist.
Diese Wallfahrt, die dann ihr Ende und ihren Höhepunkt gefunden hat, diente nicht etwa in erster Linie dem persönlichen Vergnügen oder der Erfüllung gehegter Reisewünsche. Viel eher verleiht sie uns einen bedeutungsschweren Impetus: Wir haben die Möglichkeit, aus dem um sich kreisenden Alltagstreiben herausgehoben zu werden und uns an dem Wesen der Kirche und ihrem Angebot der reichen Gnade auszurichten. Der christliche Glaube wird hier, während man sich auf dem Weg befindet, unverfälscht verkündet, die sich in ihm entfaltende Wahrheit nicht beschnitten, das aus ihr hervorgehende Licht nicht unter einen umnebelnden Scheffel von political oder clerical correctness gestellt, sondern in Gänze zum Leuchten gebracht. So weisen einen die einen begleitenden Patres auch mit Nachdruck darauf hin, daß man sehr darauf Acht geben soll, den Satan nicht in die eigene Seele vordringen zu lassen oder sie halten Impulsvorträge, in denen sie von den braunen und roten Dämonen sprechen, die der Welt in letzter Zeit schon so viel Unheil gebracht haben. Glaubenskrise?
Eine Jugend ohne Ideale? – All das, was man meiner smartphone- und tablettaffinen Generation, die wie ich um das Jahr 1992 geboren wurde, nachsagt, findet man gerade hier nicht. Bis um vier Uhr morgens wird die Aussetzung des Allerheiligsten innerhalb des Wallfahrtslagers andächtig auf Knien verfolgt. Wer im deutschsprachigen Raum einen faktischen generellen Schwund des Sakraments der Beichte festzustellen meint, wird hier eines Besseren belehrt: Die mitreisenden Priester haben gut zu tun, all die großen und kleinen Sünden der jungen Pilger zu hören und sie vor den Allmächtigen zu tragen, um für Vergebung zu bitten. Täglich wird die Heilige Messe in der klassischen Form des römischen Ritus, die Missa tridentina zelebriert. Da ist es sehr ergreifend zu sehen, wie viele Jugendliche auch heute tatsächlichen hinter der katholischen Tradition stehen und sie mit Leben erfüllen. Das ist ein Faktum dieser Wallfahrt, das von den Leitmedien in ihrer Berichterstattung gern und allzu oft unterschlagen wird. Doch sollte man daher sagen, daß die meisten der Pilger zumindest ein konservatives, wenn nicht gar ein reaktionäres Weltbild vertreten – gerade auch deshalb, weil Zeitgeistanliegen wie die Diskussion um wiederverheiratete Geschiedene hier keinen wirklichen Wiederhall finden?
Dabei wird hier nicht die direkte Konfrontation mit den Zuständen in der Welt gesucht und auch nicht in bestimmten weltlichen Kategorien gedacht, sondern der Rosenkranz gebetet – immer und immer wieder. Auf die Kraft dieses Gebetes ist es vermutlich auch zurückzuführen, daß wir Pilger von den Wirrnissen verschont geblieben sind, die sich drei Tage nach unserem Start vor der Pariser Kathedrale ereignet haben. Ein Islamist hatte französische Polizeibeamte mit verschiedenen Waffen attackiert, allgemeine Panik brach aus. Es führt uns vor Augen, daß eine verlässliche Sicherheit heute nicht mehr vollumfänglich gewährt werden kann. Es gibt auch in Europa immer mehr Menschen, die die Gläubigkeit verklärend mißbrauchen und Wahnvorstellungen verfallen.
Die Selbstgewissheit des christlichen Abendlandes erhält tiefe Risse. Doch eine Gewissheit und verlässliche Grundkonstante bleibt für uns Christen fortbestehen: der Wille Gottes, der auch in der Vorsehung, in der Bewahrung vor den Übeln der Welt, seinen Ausdruck findet. Kardinal Burke, der angereist war, um die Abschlußmesse in Chartres zu zelebrieren, wies in seiner Predigt klar darauf hin: „Cherchez la volonté de Dieu!“/ „Sucht den Willen Gottes!“, forderte er uns Pilger auf.
Was von dieser Wallfahrt bleibt, ist, daß Schönheit und Wahrheit fortan keine leeren Worthülsen mehr darstellen können. Schönheit und Wahrheit wurden mit reichhaltigen und ganz konkreten Sinneseindrücken erfahrbar gemacht, die noch einen langen Nachhall in unserem Geiste haben werden.