Eine Hommage von Hannes Kirmse
Robert Spaemann hatte eine Wendung vollzogen. Er verstand sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst selbst als Marxist-Leninist, die Ideen des Humanismus und der hegelianischen Dialektik hatten ihn beflügelt und ließen in ihm die Bereitschaft auch zu direkter politischer Betätigung aufkeimen. Die Chimäre einer propagierten Menschheitsbefreiung begann sich aufzulösen, der Schleier des Idealismus zu lüften, als der junge Student der Philosophie, Geschichte und Theologie von dem uferlosen Kommunismus in Rußland erfuhr.
Im Dienste einer aus betuchten Elternhäusern stammenden Söhnen entwickelten Weltidee, zementiert durch eine vermeintliche Notwendigkeit aus dem postulierten linearen Verlauf der Geschichte wurden Millionen von Menschenleben geopfert. Der junge Spaemann muß erkannt haben, daß aus der innerweltlichen Heilsverheißung mit ihrem Anspruch, einen neuen Menschentypus zu kreieren, die dunkelste Dystopie geworden ist, die man sich nur vorstellen kann. Das Ideal wurde zum Trugbild, die ehemals schöpferische Kraft des Geistes zur Zersetzung auf allen Ebenen, der verkündete Sinn des Verlaufs der Geschichte zur absoluten Sinnlosigkeit in der Gegenwart.
Von der Ideologie eines Kulturmarxismus wandte sich Spaemann folglich mit Entschiedenheit ab, um dann aber nicht Kompensation bei einer erneuten, irgendwie andersgearteten Ideologie zu suchen, wie es etwa Horst Mahler getan hat, der als ehemaliges SDS- und RAF-Mitglied zum Rechtsextremen wurde. Nein, Spaemann behielt bei seiner Wendung Maß und ist auch bis heute ein Denker des Maßes geblieben. Seinen für das Denken notwendigen Raum fand er gerade dadurch, daß er fortan zu allen innerweltlichen Verheißungen und Versuchungen den gebotenen Abstand hielt. Dem Revolutionären setzt er das Evolutionäre, das mit Bedacht Gewordene entgegen. – „Wichtig ist, was immer ist.“ – So brachte er es selbst einmal in einem Interview auf den Punkt. Ihm wird es daran gelegen sein, die anthropologische Grundkonstante freizulegen, die uns nicht auf das Aufgehen im Diesseits weist, sondern auf das Jenseits.
Im Menschen ist immer mehr angelegt, als er in der ihm gegebenen Lebensspanne zu verwirklichen imstande wäre. Es ist etwas, das über ihn hinausweist und das die Theologie mit dem Begriff der Gottesebenbildlichkeit beschreibt. In dem Bewußtsein der Notwendigkeit von gewissen Grundkonstanten wurde dann so aus dem einstigen Befürworter der Liturgiereform innerhalb der katholischen Kirche ein Spaemann, der einer vorschnell verordneten Reformierung nunmehr mit Skepsis gegenübersteht und dadurch Martin Mosebach zum Verfassen der bis heute kontrovers diskutierten Schrift „Häresie der Formlosigkeit“ inspirierte. Darüber hinaus wurde er zu einem Apologeten der bis 1996 verbindlichen Rechtschreibung und Sprachregelungen, die einer politischen Korrektheit dienlich sein sollen erteilte er eine klare Absage.
Die Sprache gerät, so stellt Spaemann fest, in einen infiniten Regress, wenn sie Unsagbarkeiten und alleingültige Begrifflichkeiten definieren will, die sich dann abnützten, um wiederum als solche unsagbar zu werden. Ihm geht es auch hierbei vielmehr um das rechte Maß, mit dem wir den Dingen in der Welt begegnen sollten. Durch vorschnelle Eingriffe droht unser vor allem Denken nicht nur sich zu dekontextualisieren, sondern gibt sich einer Banalisierung und Profanierung preis. Was der Philosoph folglich an der heutigen Gesellschaft beklagt, ist ihr Hang zum Aufgehen im Konsumrausch, den Theodor W. Adorno als „Kulturindustrie“ zusammen mit Nationalsozialismus und Kommunismus als weltliche Hölle bezeichnete.
Robert Spaemann ist dabei kein Philosoph, der sich im Wehklagen oder in der Auseinandersetzung mit einzelnen Sachfragen verliert. Sein Werk reicht thematisch weit, fast weiter als die nun vollbrachte Lebensspanne von neun Jahrzehnten. Mit der Moralphilosophie und der Ethik befasste er sich ebenso wie mit der Soziologie oder der politischen Theorie. Es sind mit ihm Werke entstanden, die uns zu wahrhaftig zu denken geben sollten, so etwa der 2011 erschienene vielsagende Titel „Nach uns die Kernschmelze. Hybris im atomaren Zeitalter“. Immer wieder haben ihn Fragestellungen angeleitet wie diese: Was ist der Mensch? Wie tritt er in Erscheinung? Wie ist sein Verhältnis zu den philosophischen Fragen, insbesondere zu den sogenannten „letzten Fragen“ bestimmt? – Die Kunst der Philosophie besteht für Spaemann bereits darin, die treffenden Fragen zu formulieren, um so sonst im Verborgenen bleibende Strukturen aufzudecken.
So ist er ein Mann der offenen Worte, einer, der die Debatte keineswegs scheut und es für eminent bedeutsam erachtet, daß die Philosophie ihre Fragen in die Gesellschaft hineinträgt – als Korrektiv und als retardierendes Moment. Die technische Entwicklung verläuft dermaßen rasant, daß das Menschliche und die Beziehungen unter den Menschen dabei allzu oft auf der Strecke zu bleiben drohen. Spaemann erhob seine gewichtige Stimme immer dann, wenn er diese Bedrohung im Begriffe zu sehen meinte, wahr zu werden: bei der Frage der Euthanisie, beim Schutz des ungeborenen Lebens, aber auch beim Umweltschutz und bei der Tierethik. Den homo mensura-Satz versteht er nicht etwa so, daß der Mensch über alles erhaben sei, sondern, daß er sich auch das notwendige Maß an Vernunft und Selbstgenügsamkeit bewahren muß, um langfristig fortzubestehen.
Es leitet sich daraus für ihn auch die folgende Frage ab: Machen wir den Menschen dadurch besser oder glücklicher, indem wir seine Gegebenheiten beständig dem technischen Fortschreiten anpassen? Spaemann hat die Mythen erkannt, die von der Moderne heraufbeschworen worden sind. Der Mensch muß nicht schritthalten können mit hochgreifenden Glücksutopien, um tatsächlich und wahrhaftig glücklich zu werden. Allzu oft haben sich diese Glücksutopien von selbst als eine ins Leere laufende Nichtigkeit entlarvt.
Bei alledem ist und bleibt das Christentum das tragende Leitmotiv in der Fülle seiner Gedankenwelt, das ihm Rückkopplung und Hoffnung zugleich ist, was u.a. aus seiner durchgängigen Betonung des Naturrechts und der Wahrheitsfähigkeit im Menschen hervorgeht. Er ist aus tiefer Überzeugung Katholik, denn keine andere Institution hat über die Jahrhunderte hinweg eine umfassendere Kenntnis des menschlichen Wesens erlangen können als die katholische Kirche.
Robert Spaemann, der nach Lehrtätigkeit an den Universitäten Stuttgart, Heidelberg und München 1992 emeritiert wurde, ist in der Folge keinesfalls untätig geblieben. Er hat weiter gearbeitet, weiter ersonnen und weitere Fragen angetroffen und angesprochen. Es bleibt zu hoffen, das vielleicht noch die ein oder andere Schrift von ihm folgen und in sein Alterswerk einfließen wird. Doch erscheint er wie bereits einst Heidegger und später auch Gadamer wie ein eherner Erzengel mit dem erforderlichen Maß an Distanz gegenüber dem unmittelbaren Treiben in der Welt. Sein profunder Geist weht in die Welt hinein.