Von Georg Dietlein
Im vorangehenden Abschnitt (Die Zukunft hängt an der Liebe [1][2][3][4]) haben wir ganz generell unser Verhältnis zu unserer eigenen Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit betrachtet. Wir sind zu der Einsicht gelangt, dass Gott uns unsere Geschlechtlichkeit geschenkt hat, damit wir aus uns herauszutreten und anderen Zeichen unserer liebenden Hingabe schenken. Unsere Sexualität ist kein Relikt eines „Urmenschen“ in uns, das allein deshalb im Laufe der Evolution nicht abgestorben ist, damit die Menschheit nicht ausstirbt. Der Sinn unserer Sexualität ist weder allein unsere Fortpflanzung noch unsere Lustgewinnung. Wie wir im ersten Buch der Heiligen Schrift lesen, gehörte die Bipolarität von Mann und Frau bereits von Anfang an zum Schöpfungswerk Gottes dazu.
Bereits vor dem Sündenfall waren Adam und Eva geschlechtlich. Obwohl sie unsterblich waren, schenkte ihnen Gott die Fähigkeit, sich zu vermehren – nicht allein zur Selbsterhaltung der Menschheit, sondern vor allem als Ausdruck der Liebe. Geschlechtlichkeit und Sexualität sind von Anfang an als etwas sehr Positives konnotiert. Gott erschuf den Menschen als Mann und Frau – und er sah, dass es gut war. Die Zweiheit von Mann und Frau, ihre Abhängigkeit voneinander und ihre Erfüllung im miteinander und ineinander gehört zur göttlichen Schöpfungsordnung dazu. Mann und Frau sollen sich finden. Sie sollen sich aneinander verschenken. Ausdruck ihrer sich verschenkenden, verbindlichen und endgültigen Liebe ist schließlich die geschlechtliche Gemeinschaft von Mann und Frau.
Der Natur des Menschen ist nicht die Einsamkeit, sondern die Zweisamkeit eingeschrieben. Gott will nicht, dass der Mensch selbstbezogen oder egomanisch bleibt. Vielmehr will er das Miteinander, Zueinander und Aufeinander hin der Menschen sehen. So lesen wir im zweiten Schöpfungsbericht: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Gen 2, 18). Gott will den Menschen nicht nur als Hüter seiner Schöpfung haben. Er will ihm auch Anteil an seinem eigenen Wesen schenken, das die Liebe ist. Der Mensch soll mehr sein als ein Tier. Er soll nicht nur essen, trinken und sich vermehren können. Das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist seine Fähigkeit zur Liebe.
Darum unterscheidet sich die Sexualität des Menschen auch fundamental von der Sexualität des Tieres. Tiere „schlafen“ nicht „miteinander“. Ihre geschlechtliche Gemeinschaft ist niemals Ausdruck von Freiheit oder sich verschenkender Liebe. Tiere können ihre Sexualität noch nicht einmal lenken, steuern oder abschalten. Als triebgesteuerte Wesen folgen sie ihrem natürlichen Paarungs-, Balz- oder Brunftverhalten. Sie haben feste Rhythmen, Zyklen und Formen der Begattung. Die Sexualität des Tieres dient allein der Arterhaltung und ist niemals Ausdruck freier und echter Liebe.
Anders ist es beim Menschen. Zwar gehört auch der Sexual- und Selbsterhaltungstrieb zur Natur des Menschen. Seine Sexualität kann er allerdings frei steuern. Er kann sich frei dafür und dagegen entscheiden. Der Sexualtrieb des Menschen beherrscht oder versklavt ihn also nicht. Und im Gegensatz zum Essen und Trinken kann der Mensch – zumindest als einzelner – auch ohne Sex überleben. Sex beruht also immer auf der freien Entscheidung zweier Personen füreinander. Ihr wohnt ein besonderes Element der Freiheit inne: „Ich habe mich für Dich entschieden.“ Die Sexualität des Menschen ist daher niemals allein Mittel zur Fortpflanzung und zur Triebbefriedigung, sondern immer auch Ausdruck der sich selbst bindenden Freiheit, die im Optimalfall echte Liebe ist.
YOLO – You only live once?
Liebe als sich selbst bindende Freiheit? Weniger Gefühl als eine ganz bewusste Entscheidung für etwas und jemanden? Klingt gut, ist aber gar nicht so einfach! Wir leben heute in einer Welt, in der das Motto „You only live once“ zum Maßstab geworden ist. Das Leben ist eine ewige Premiere. Jede Sekunde muss genutzt werden. Was ich im hier und heute verpasse, habe ich für immer verpasst. Mein Leben bietet mir unendliche Möglichkeiten – und: Man lebt nur einmal!
Diese Denkweise macht es jungen Menschen heute immer schwerer, sich zu entscheiden und sich für eine längere Zeit zu binden. Entscheidungen und Bindungen sind immer Früchte von Freiheit, begrenzen diese Freiheit aber auch. Freiheit wäre nichts wert, wenn ich sie nicht gebrauche, wenn ich mich nicht entscheide. Gleichzeit führt der Gebrauch der Freiheit, die Entscheidung, immer zu einem Minus an Freiheit. Dies zu Ende gedacht bedeutet aber: Gerde endgültige Bindungen und Beziehungen – die scheinbare Unfreiheit – sind die höchste Form und die schönste Frucht menschlicher Freiheit. Hier hat sich die Freiheit verwirklicht und für eine Ausgestaltung ihrer selbst entschieden.
Ganz genauso ist es bei der menschlichen Liebe. Gott hat den Menschen aus Liebe und zur Liebe erschaffen. Jeder einzelne von uns ist ein Gedanke Gottes. Gott hat uns um unserer selbst willen geschaffen und uns mit der Freiheit ausgestattet, die notwendig ist, um seine Liebe mit Gegenliebe zu beantworten. Unsere Freiheit ist auf die Liebe hin ausgerichtet – die Liebe zu Gott und die Liebe zu anderen Menschen. In unserer Freiheit können wir uns jeweils für oder gegen die Liebe entscheiden. Das Entscheidende ist, dass wir uns entscheiden. Unsere Leiblichkeit hat uns Gott nicht geschenkt, damit wir einander ausprobieren und konsumieren wie Objekte. Liebe ist eine verbindliche Entscheidung. Wenn ich mich an jemanden mit Leib und Seele verschenke, so erwarte ich, dass diese Liebe auch ehrlich erwidert wird und ich nicht missbraucht werde. Nur wer verbindlich liebt, liebt wirklich.
Die Wahrhaftigkeit der Liebe
Und damit sind wir bei der Frage nach der Wahrhaftigkeit unserer Liebe. Eigentlich können wir uns diese Frage in jeder Lebenslage und mit Blick auf jede Person stellen: Mit welcher Liebe lieben wir unseren Ehepartner, unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Geschwister, unsere Freunde, unsere Feinde, unseren Nächsten? Hier geht es immer um die Reinheit, Wahrhaftigkeit und Echtheit unserer Liebe! – Halten wir einen Augenblick inne und stellen uns diese Frage: Ist unsere Liebe wirklich echt, ehrlich und wahrhaftig? Geht es mir wirklich um das Du, um die Freiheit und das Wohlergehen meines Gegenübers? Oder stelle ich meine eigenen Träume, mein Verlangen, meine Wünsche und Erwartungen in den Vordergrund? Liebe ich Dich oder liebe ich nur Deine Geschenke und oberflächlichen Vorzüge?
Ein interessanter Ort, um sich die Frage nach der Echtheit unserer Liebe zu stellen, sind Discotheken. Unter vielen Jugendlichen geht es hier recht freizügig und zügellos zur Sache: Paare, die sich bisher kaum kennen und doch eng umschlungen tanzen. In Amerika ist diese „Tanzart“ noch viel weiter verbreitet und gehört zum Standardprogramm in der Disco: Der Herr schmiegt sich von hinten an „seine“ Dame an, die in rhythmischen Bewegungen ihre Hüfte kreisen lässt und mit ihrem Hintern an sehr privaten Stellen des Herrn reibt – eine Form imitierten Geschlechtsverkehrs. Das ganze nennt man dann „Grinding“ („reiben“), „Booty Dancing“, „Freak Dancing“ oder „Perreo“ (von spanisch „perro“, d.h. Hund). Den „Perreo“ tanzen übrigens nicht nur verliebte oder verheiratete Tanzpartner, sondern auch Jugendliche, die sich gerade erst auf der Tanzfläche begegnet sind. Der „Intimtanz“ geht – gerade zu fortgeschrittener Stunde – oft mit ganz bestimmten Hintergedanken einher und ist dann der erste Schritt auf dem Weg ins Bett.
Für mich war außerdem eine interessante Erkenntnis, wie in Discotheken zu fortgeschrittener Stunde die „Intervallszeit“ sinkt, also die Zeitspanne zwischen der ersten Begegnung zweier Menschen – meist auf der Tanzfläche – und ihrem ersten Kuss. Meist ging die Initiative dazu vom männlichen Teil aus. Die Antwort der Dame erfolgte meist eher schüchtern, notgedrungen oder unwillig. So ein Kuss muss sich natürlich entwickeln. Schließlich kam mir die „Intervallszeit“ in den meisten Fällen aber doch sehr gering vor. Die Jugendsprache hat für solche Situationen der Enthemmung ganz eigene Vokabeln: „schmusen“, „züngeln“, „knutschen“, „rumlecken“, „rummachen“, „fummeln“. In diesen Worten drückt sich im Kern aus, worum es beim sog. „Rummachen“ eigentlich geht: weniger um Liebe als um das Spiel, um das Sammeln neuer Erfahrungen und das Auslieben und Ausleben eigener Phantasien und Träume.
Soweit so gut. Der Austausch von Küssen und Zärtlichkeiten ist ja an sich eine wunderbare Sache – soweit und solange sie ernst gemeint sind. Aber spätestens dann, wenn das Mädchen, mit dem ich getanzt, geflirtet und „rumgemacht“ habe, wirklich echtes Interesse an mir zeigt, ergibt sich ein größeres Problem: Für mich war das ganze möglicherweise nur ein Spiel, ein Experiment oder eine nette Erfahrung. Meine Tanzpartnerin hingegen hat meine Liebkosungen, Zärtlichkeiten und Küsse als Ausdruck meiner Liebe verstanden – und nicht als „Selbsthilfe“ zur Triebbefriedigung. Die Konsequenz ist offensichtlich: Ein solcher Abend hinterlässt nicht nur Sehnsucht, Liebeskummer und enttäuschte Erwartungen, sondern auch tiefe Verletzungen. Ich selbst habe eine Person, die von der Echtheit meiner Liebe ausgegangen war, nicht nur angelogen und „verarscht“, sondern auch zum Objekt der Triebbefriedigung degradiert. Ich habe mein Gegenüber von Grunde auf belogen und bloß ihre Leiblichkeit, nicht aber ihre Ganzheit als Person ernst genommen. Im Grunde hätte ich sagen können und – aus Gründen der Ehrlichkeit – sagen müssen: „Du als Person interessierst mich eigentlich gar nicht. Das einzige, was mich an Dir interessiert, ist Dein Körper.“ – Wer so etwas sagt, hat Lieben eindeutig verlernt. Er ist nur noch Sklave seiner Triebhaftigkeit.
Liebe braucht Ganzheitlichkeit und Verbindlichkeit
Wenn zu später Stunde (fast) alles erlaubt ist, ergibt sich ein weiteres Problem, nämlich das der unverbindlichen „Liebe“: übereiltes oder zumindest kaum ernst gemeintes Küssen – Berührungen und Zärtlichkeiten, die mehr Spiel und Experiment als Zeichen wahrer Liebe sind – möglicherweise sogar noch verbunden mit der Einladung, eine gemeinsame Nacht der Unverbindlichkeit und „Freizügigkeit“ zu verbringen. Jugendliche nennen diesen Vorgang „abschleppen“ bzw. „klarmachen“ und bringen damit eine tiefliegende Wahrheit zum Ausdruck: Eigentlich geht es mir nicht um die Freiheit des anderen, sondern um Sex ohne Beziehung und ohne Bindung. Letztlich möchte ich mein Gegenüber nur konsumieren – wie eine Tüte Chips oder eine Flasche Cola.
Das Traurige hierbei ist nicht einmal die Unverbindlichkeit, mit der hier „geliebt“ wird. Viel erschütternder ist, dass hier noch nicht einmal geliebt wird. Lieben kann ich eine Person nur ganz – mit Leib und Seele. Begehre ich ihren Leib, liebe ich die Person als solche nicht. Wahre Liebe liebt eine Person immer um ihrer selbst willen, nicht etwa wegen ihrer attraktiven Figur oder anderer Vorzüge. Ein guter Maßstab dafür ist etwa folgende Frage: Will ich wirklich die Freiheit und das Wohlergeben dieser Person? Oder möchte ich sie nur für meine eigenen Zwecke und Bedürfnisse vereinnahmen? Konsumieren wir uns ausschließlich? Oder lassen wir uns wirklich aufeinander ein?
Liebe will die Freiheit des anderen
Oder aus einem anderen Blickwinkel: Wie sieht die reine, ehrliche und wahrhaftige Liebe auf zwei Personen, die sich gerade verliebt küssen – wenn sich der Teufel zu Wort meldet: „Schau mal, die da hättest Du auch haben können!“ – Die reine, ehrliche und wahrhaftige Liebe will immer die Freiheit des anderen. Sie ist glücklich, wenn das Gegenüber glücklich ist.
Sie leidet, wenn das Gegenüber leidet. Und darum liebt sie die Freiheit der anderen Person selbst dann, wenn diese ablehnend ausfällt, wenn die andere Person nicht viel mit mir zu tun haben möchte und mir „einen Korb gibt“. Das fällt nicht immer leicht. Nichts ist schlimmer als enttäuschte und verschmähte Liebe. Verliebt-Sein kann man nicht einfach abstellen. Es bleibt eine Sehnsucht, die nie in Erfüllung gehen wird. Zum Heulen!
Wer jemanden liebt, möchte ihn am Liebsten in seine Arme schließen und nie mehr loslassen. Wahre Liebe umfasst eben nicht nur die freimachende Liebe, sondern auch, wenn sich zwei Liebende einmal gefunden haben, die begehrende Liebe. Wer sich liebt, möchte sich am liebsten nie wieder trennen und für immer zusammensein. Im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern tritt noch eine weitere Form von Liebe hinzu: die aufopferungsvolle und sich verzehrende Sorge der Eltern um ihre Kinder, die den Kindern im Interesse um ihr Wohlergehen auch einmal einen Wunsch abschlagen muss.
Am deutlichsten wird die Liebe der Eltern zu ihren Kindern etwa dann, wenn sie ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um das Leben ihrer Kinder zu retten. Hierzu ein ganz alltägliches Beispiel: Was wird eine Mutter tun, wenn sich ihr Kind plötzlich von der Hand losreißt und auf eine vielbefahrene, lebensgefährliche Straße losläuft? Sie wird ihrem Kind hinterherlaufen – und wenn sie es eingeholt hat, wird sie es an sich drücken und möchte es nie wieder loslassen.
Bei der Liebe zwischen Mann und Frau läuft das alles etwas anders. Keiner von beiden hat das Erziehungsrecht bzw. die Erziehungspflicht über den anderen, so dass die Grundlage der Beziehung absolute Freiheit ist. Wenn einem Jungen sein Mädchen – aus welchen Gründen auch immer – wegläuft, so darf er ihr zwar hinterherlaufen, festhalten und an sich reißen darf er sie allerdings nicht. Hier finden Liebe und Verliebt-Sein ihre Grenzen an der menschlichen Freiheit. Einem Verliebten mag dies auf den ersten Blick vermutlich nicht einleuchten. Liebe macht blind. Liebe versetzt uns – auch medizinisch nachweisbar – in einen Rauschzustand, in dem wir – zwanghaft – beinahe alles tun würden, um die geliebte Person für uns zu gewinnen bzw. um ihr etwas Gutes zu tun. Wir könnten die Welt umarmen!
Doch Liebeseifer, Eifersucht und Liebeskummer in allen Ehren – wer liebt, muss auch loslassen können. Sonst wird Liebe krankhaft und vereinnahmend. Zwar gibt es auch eine gesunde Form von Liebeseifer, die uns dazu treibt, hinter unserem Geliebten bzw. unserer Geliebten „hinterherzulaufen“ – genauso wie Gott uns Menschen als „Mitliebende“ möchte und uns bis zur letzten Sekunde unseres Lebens hinterherlaufen wird.1 Gleichwohl gibt es hier auch Grenzen. Im letzten Moment respektiert die Liebe die endgültige Entscheidung des anderen, auch wenn diese negativ ausfällt. Wahre Liebe will immer die Freiheit des anderen, auch wenn dies gerade mit Blick auf die Liebe zwischen Mann und Frau sehr schwer fallen kann.
Wer sagt dem anderen am Ende einer Beziehung schon gerne „Alles Gute für Dein weiteres Leben“? Eine Trennung fällt immer sehr schwer. Tiefe Gefühle, Protest, Wut, Rachsucht und Depressionen gehen oft damit einher. Doch auch damit muss die Liebe „klarkommen“. Letztlich gehört dieser Schritt zur Konsequenz von Liebe und Hingabe dazu: Liebe geht so weit, dass sie dazu bereit ist, zurückzustecken, loszulassen und neu anzufangen. Und darum ist es so wichtig, auch nach einer gescheiterten Beziehung den anderen wieder als Person anzusehen, ihm nicht nachzustellen, seine Freiheit zu achten und ihn vor allem nicht zum Objekt zu machen, auf das ich Wut und Rache projiziere. Das fällt nicht immer einfach, ist aber der Anspruch der Liebe, den wir erlernen können.
Mit Blick auf die Endlichkeit und Begrenztheit des menschlichen Lebens müssen sich zwei Verliebte – so sehr diese Perspektive aus dem Blick rücken mag – übrigens stets darauf einstellen, dass diese Liebe eines Tages – zumindest in dieser Form – durch den natürlichen Tod eines Menschen zu Ende gehen wird. Das ist die große Zumutung der Liebe: Sie, die eigentlich die Unendlichkeit und Unbedingtheit des anderen will, muss lernen, die Endlichkeit und Bedingtheit des anderen anzunehmen – und den anderen gerade unter diesen Prämissen zu lieben. Liebe ist völlig verrückt, könnte man da denken.
Aber kommen wir noch einmal zurück zum Blick in die Diskothek: Wo ein Junge vorprescht, ein Mädchen antanzt und schließlich darauf losküsst, kann von Liebe kaum die Rede sein. Wirklich lieben kann ich eine Person eigentlich erst dann, wenn ich sie auch kenne – im Kontext einer Diskothek: wenn ich wenigstens ihren Namen weiß! Darum kann man sich auch erst nach einigen persönlichen Treffen wirklich ehrlich küssen. Ansonsten wird der Kuss – ein intimes Zeichen meiner Liebe, das ich eigentlich immer nur einer Person schenken kann – seines Sinngehaltes beraubt. Vielmehr noch: Der voreilige Kuss wird zur Lüge. Er verhindert das Wachstum wahrer Liebe und wird daher zum „Beziehungskiller“.
Er überrumpelt die Freiheit des einen und beweist, dass der andere den Zusammenhang von wahrer Liebe und echter Freiheit noch nicht verstanden hat. In dem Falle bleibt der erste Kuss auf der Ebene des Verliebt-Seins und ist möglicherweise gar nicht bereit, bis hin zu jener sich entäußernden und verzehrenden Liebe zu gehen. Was würden wir zu einem Jugendlichen sagen, wer sich von einem zum nächsten Mädchen über die Tanzfläche „durchtanzt“ und „durchknutscht“? Das kann er doch nicht ernst meinen! Und ebenso muss die Liebe mit ihren körperlichen Ausdrucksformen wachen: erst eine freundschaftliche Umarmung, später vielleicht eine zärtliche Berührung, die zum ersten Kuss führen kann. Wer sich küsst, signalisiert damit nach außen: Unsere Liebe ist gefestigt.
Wir sind ein Paar! Wer in diesem Punkt übereilt vorprescht, kann es mit der Liebe eigentlich gar nicht ernst meinen, denn wahre Liebe nimmt immer die Freiheit des anderen in den Blick, lässt sie sich entfalten und akzeptiert sogar die ablehnende Entscheidung des anderen. Wer eher auf schnelle Entscheidungen ohne viel Spielraum steht und seinen Partner vor die Alternative „das erste Mal Sex“ oder „Schluss machen“ stellt, ist allein auf die körperlichen Vorzüge des Gegenübers aus. Er möchte sie ausprobieren, austesten, vielleicht auch ausnutzen. An der Person als solcher hat er aber doch weniger Interesse. Er möchte sich eben nicht unbedingt an sie verschenken, sondern stellt die Beziehung unter eine Bedingung. Gerade aber das hat nichts mehr mit Liebe zu tun.
Keine Person sollte sich ausprobieren, austesten oder ausnutzen lassen müssen. Liebe bedeutet ja gerade die Wertschätzung einer Person um ihrer selbst willen. Das heißt: diese Person ohne Bedingungen und Hintergedanken anzunehmen – egal, was die Zukunft bringt – egal, wie die Person sich beim „ersten Mal“ im Bett verhalten wird. Insofern muss jeder, der eine Beziehung und später die heilige Ehe eingeht, ein Stück weit „die Katze im Sack“ kaufen. Doch Verliebte sehen dieses gegenseitige Sich-Überantworten nicht mehr als Risiko, sondern als lebenslanges Abenteuer in unbedingtem Vertrauen und bedingungsloser Hingabe.
1 Vom seligen Johannes Duns Scotus (13./14. Jahrhundert) stammt der schöne Satz: „Deus vult condiligentes“ (Opus Oxoniense III d. 32 q. 1 n. 6) – „Gott will Mitliebende“. Gott, der seinem dreifaltigen Wesen nach in sich selbst die Liebe ist, der uns von Anfang an geliebt hat und uns immer noch liebt, möchte uns Menschen mit seiner Liebe ansprechen und uns in seine Liebesgemeinschaft gleichsam „hineinziehen“. Wie viel Leid, Schmerz und Liebeskummer muss Christus wohl erleben, da wir seine unbegreifliche und unendliche Liebe nicht liebevoll erwidern?
Georg Dietlein (* 1992) ist katholischer Journalist und Publizist. Er begann sein Studium der katholischen Theologie an den Universitäten Bonn und Köln bereits als Schüler im Alter von 13 Jahren. Mit 15 Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch. 2013 schloss er sein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität zu Köln mit einer Arbeit zum kirchlichen Management ab. Zur Zeit beendet er sein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln.