von Dr. Josef Bordat
Im Monat Mai steht in der Katholischen Kirche die Gottesmutter ganz besonders im Mittelpunkt. Maria ist Mutter, sie ist aber vor allem Kind Gottes und hat damit die größte aller Gnaden empfangen: die Gnade des Glaubens. Sie lebt uns vor, wie wir als Christen leben sollten, noch bevor es das Christentum gibt. Maria ist „Protochristin“. Wir sollen auf sie schauen, wenn wir Christus nachfolgen wollen – rät uns Jesus noch vom Kreuz herab, wenn er seinem Lieblingsjünger Johannes auf den Weg gibt: „Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19, 27).
Christus nachzufolgen heißt heute auch, Christus wieder neu in die Welt zu bringen, damit der Natur des Menschen die Gnade Gottes, damit der Erde ein Stück Himmel zuteil wird. Auch wir sind insoweit „Gottesgebärer“, die in einer glaubensfernen Welt die Mittlerrolle spielen. Das ist der Kern der katholischen Marienverehrung: die petrinischen Hierarchie der Kirche um eine marianische Frömmigkeit zu ergänzen, die sich nicht als Marianismus verselbstständigt, sondern stets das Ziel im Auge behält – Christus zur Welt zu bringen.
So glaubensfern ist diese – zumindest hierzulande – übrigens doch nicht, zumindest im Hinblick auf die christliche Kultur. Gerade Maria ist traditionell „in“. 429 Apotheken in Deutschland (vor allem im Rheinland und in Bayern) tragen Maria in ihrem Namen. Und auch als Vorname erlebt Maria eine gewisse Renaissance: Gehörte „Maria“ von 1890 bis 1950 stets zur Top 50 der weiblichen Vornamen, fiel die Beliebtheit bis zum Jahr kontinuierlich 2000 ab, um danach wieder zu steigen.
Soweit zu Kultur und Tradition. Dem christlichen Glauben jedoch begegnen in unserer Zeit viele Menschen mit Unverständnis, auch deswegen, weil wir uns als Menschen der Moderne daran gewöhnt haben, prinzipiell unmarianisch zu sein: Wir wollen das Unbekannte diskursiv erfahren und erkennen – nicht still im Herzen bewahren und erwägen (vgl. Lk 2, 19). Wir wollen das Verhüllte enthüllen, das Rätsel lösen. Das Rätselhafte lastet auf uns wie ein Joch, es stellt ein Problem dar, das unter Einsatz aller menschlichen Kräfte zum Verschwinden gebracht werden muss.
Triebkraft dieses Denkens ist der wissenschaftliche Fortschritt, der allmählich zu einer „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) führt, weil er der Natur ihre Rätsel entlockt. Seit einem halben Jahrtausend läuft dieses Ent- und Aufdeckungsprogramm, freilich ohne ein absehbares Ende. Im Gegenteil: Je mehr wir wissen, desto mehr Fragen drängen sich auf. Doch dabei gilt stets: Wir können jedes Rätsel lösen – früher oder später.
Die Wissenschaft entzaubert aber nur jene Weltanschauungen, die im Bereich des Erkenntnisobjekts mit Unnatürlichem rechnen. Das tut der christliche Glaube an die Geheimnisse Gottes gerade nicht, weil Gott im Christentum keine Naturkonstante ist, die sich – wenn nur lange genug geforscht wird – durch eine experimentell-induktiv gewonnene Gesetzmäßigkeit ersetzen ließe. Kurz: Die Gottesfrage ist kein „Rätsel“, sondern ein Geheimnis.
Das grundlegende Missverständnis der Moderne rührt nun daher, zu meinen, das Geheimnis des Glaubens sei gerade auch solch ein wissenschaftliches Rätsel. Unter dieser Voraussetzung klingt die Rede vom Geheimnis des Glaubens wie der hilflose Versuch, etwas in seinem Nebel zu konservieren, dem klärenden Zugriff des Forschers zu entziehen. Es klingt wie eine billige Schutzvorrichtung gegen das mächtige Entdeckungsprogramm der Wissenschaft.
Das wäre aber nur dann der Fall, wenn es hier etwas wissenschaftlich zu entdecken gäbe. Dem ist aber nicht so. Das Geheimnis des Glaubens ist keine komplizierte Fragestellung, die mit einer neuen Generation von Rechnern gelöst werden kann. Das Geheimnis des Glaubens unterscheidet sich vom Rätsel der Wissenschaft dadurch, dass es keinen Mangel darstellt, der das menschliche Wesen beschämt und den Menschen nach Aufklärung gieren lässt, ein Bedürfnis nach Klarheit, das zwischenzeitlich von der Hybris des utopistischen „Noch-Nicht“ (Ernst Bloch) befriedigt wird. Das Geheimnis des Glaubens braucht keine erklärende Auflösung, es braucht vielmehr eine entschlossene Annäherung, die im Herzen das Verständnis für seinen besonderen Wert bewahrt und erwägt, auch und gerade dann, wenn es uns verborgen bleibt.
Der Glaube daran, dass es „Etwas“ gibt, das sich prinzipiell unserem wissenschaftlichen Zugang zur Welt entzieht, ist denn auch Voraussetzung für eine Annäherung an das Geheimnis, die nicht die Auflösung anstrebt, sondern die Betrachtung, die Wertschätzung, das Geltenlassen des Verhüllten. Christen tun darüber hinaus etwas völlig Ungehöriges: Sie feiern das Geheimnis, um mit Karl Rahner zu sprechen. Sie schämen sich nicht ihrer Unkenntnis, sie feiern sie als großen Reichtum. In jedem Gottesdienst, Tag für Tag. Spätestens da hört das Verständnis bei vielen Menschen auf, die das Geheimnis als Rätsel und den Glauben als Nicht-Wissen auffassen. Damit treffen sie aber gerade nicht den Kern dessen, was Christen meinen, wenn sie vom „Geheimnis des Glaubens“ sprechen.
Der Glaube des Christen lebt nicht trotz, sondern im Geheimnis. Wie aber ist das möglich? Möglich wird ein derart souveräner Umgang mit dem Geheimnis des Glaubens nur im Gottvertrauen – im tiefen Vertrauen darauf, dass der distanzierte, verborgene, verhüllte „Ganz Andere“ (Rudolf Otto), der sich uns durch den Geist zuspricht, der gleiche Gott ist, der Mensch wird und uns in Christus das „Du“ anbietet (das Geheimnis der personalen Dreifaltigkeit des einen Gottes in Vater, Sohn und Heiligem Geist), im Vertrauen darauf, dass die Zeichen, die Priester stellvertretend für Jesus an Menschen vollziehen, einen Hinweis geben auf die Fülle des Heils (das Geheimnis der Initiierung, Erneuerung, Bindung, Stärkung, Versöhnung und Vollendung durch die Sakramente), im Vertrauen auf die Gaben des Heiligen Geistes, die uns Menschen zum Handeln nach dem Willen Gottes befähigen, und insbesondere im Vertrauen darauf, dass Gott in uns eingeht (das Geheimnis der Gegenwart Gottes in der Eucharistie) und dass wir in Ihm eingehen (das Geheimnis von Auferstehung und Ewigem Leben). Das Geheimnis des Glaubens lebt vom Vertrauen auf Gott.
Ist dieses Vertrauen begründet? Darauf eine Antwort zu geben, ist die ureigene Lebensaufgabe jedes Menschen, denn sie schließt einerseits die Gottesfrage, andererseits die Glaubensfrage ein. Also: Existiert Gott? Und, wenn ja: Will ich mit Ihm gehen? Ihm nachfolgen?
In jedem Fall braucht Gottvertrauen Mut. Glauben ist ein „Wagnis“ (Wust). Ein gutes Beispiel dafür gibt uns – Maria. Sie geht ein enormes Risiko ein. Und sie kann sich vieles, zudem sie „Ja“ sagt, nicht erklären. Erst wird sie von einem Engel besucht, der ihre Schwangerschaft ankündigt. Kurz vor dem Entbindungstermin muss sie auf eine strapaziöse Reise. Dann kommt das Kind, doch niemand nimmt sie auf. Mit dem Baby muss sie durch die Wüste auf eine lange Flucht. Als Junge läuft ihr Sohn davon und lehrt die Lehrer. Als junger Mann verlässt er sie, um zu predigen. Er lehrt die Menschen die Liebe und endet dafür am Kreuz – wie ein Verbrecher. Lauter „Rätsel“, an denen man verzweifeln möchte. Doch Maria verzweifelt nicht. Sie verlangt von Gott auch keine Erklärungen, sondern „bewahrte alles in ihrem Herzen und erwog es“ (Lk 2, 19). Sie ahnt dabei, dass sie Teil einer großen Geschichte ist, sie weiß sich geborgen in Gott. Sie hat Gottvertrauen. Die Rätsel werden ihr in diesem Vertrauen allmählich zum Geheimnis des Glaubens.
Mit Maria bleiben auch uns viele Dinge in unserem Glauben rätselhaft. Auch wir sollten verstehen, dass es nicht auf eine erklärende Lösung ankommt, sondern darauf, diese Dinge als Geheimnis zu bewahren und zu erwägen, im Vertrauen auf Gott. Denn auch wir alle sind Teil einer großen Geschichte – jeder Einzelne von uns.
Wie die Liebe und die Hoffnung enthält auch der Glaube Aspekte, die nicht restlos aufgehen in der Erklärung. Sie werden nicht mit dem Hirn verstanden, sondern mit dem Herzen. Dadurch, dass sie bewahrt und erwogen werden. Diese Aspekte können wir „Geheimnisse“ nennen. Sie machen die Liebe zur Liebe, die Hoffnung zur Hoffnung und den Glauben zum Glauben.
Das Geheimnis gibt dem Glauben seinen Sinn und macht ihn reich. Es erhebt ihn über die Wagheit des bloßen Nicht-Wissens. Ein Glaubender ist mehr als ein Nicht-Wissender. Der Gläubige steht nicht konfrontativ zum Geheimnis, wie der Nicht-Wissende zum Rätsel, sondern kontemplativ. Während dem Nicht-Wissenden das Rätsel äußerlich bleibt und seine Sehnsucht ihn treibt, es zu überwinden, um zur Ruhe zu kommen (nach Ludwig Wittgenstein das höchste und letzte Ziel aller Philosophie), verinnerlicht der Gläubige das Geheimnis. Es wird ein Teil seiner Identität und er selbst ein Teil des Geheimnisses.
Hier wird noch einmal deutlich, dass der Glaube ein Wagnis ist. Sich hineinzubegeben in die Tiefe des Geheimnisses, mit ihm eins zu werden und damit einer Welt im Paradigma der Wissenschaft rätselhaft zu sein, das ist ein Risiko. Dass es sich einzugehen lohnt – auch das zeigt uns Maria.
Dr. Josef Bordat ist katholischer Autor und Blogger. In seinem Weblog Jobo72 behandelt er philosophische und theologische Fragen und bezieht engagiert Stellung zu den Themen Kirche, Medien und Politik. Zuletzt erschienen Das Gewissen (2013) und Credo. Wissen, was man glaubt (2016), beide im Lepanto-Verlag