Dienstag, 26. November 2024

Gedicht zum Sonntag: „Die Tierphilosophen“ von Erich Mühsam (1878-1934)

„Die Tierphilosophen“

Gott hatte die Welt für gut befunden
und verzog sich darauf für einige Stunden,
damit sich die Tiere der Zeiten bedächten,
womit sie die Zeit ihres Daseins verbrächten.
Die meisten besahen sich nur ihren Leib
und bestimmten darnach ihren Zeitvertreib.
Je, ob sie zwei-, vier- oder hundertbeinig,
war man sich schnell über alles einig.
Die wollten einzeln sein, die in Horden,
die wollten nach Süden gehen, die nach Norden –
die Vögel wollten in Lüften schweben,
die Würmer unter der Erde leben,
die Fische wollten im Wasser schwimmen,
die Gämsen hoch auf den Bergen klimmen,
und in kurzer Zeit hatten allesamt
einen Lebensplan und ein Weltenamt.
Und Gott sah hernieder zu seinem Volke
von seiner prächtigsten Purpurwolke.
Da sah er die Tiere schon alle am Werke
und freute sich seiner Schöpferstärke …
Nur eine Gruppe von seltsamen Vögeln
war noch dabei, ihren Weltplan zu regeln.
Das war die Familie der Marabu; –
Gott wunderte sich und sah ihnen zu.
Doch er vernahm kein Schnattern und kein Zanken, –
sie standen alle in tiefen Gedanken.
Es wußt noch keiner: sollten sie fliegen
oder sollten sie müßig im Wasser liegen?
Sollten sie Frösche und Kröten verzehren
oder sollten sie sich vegetarisch ernähren?
Sollten zum Schlaf sie im Wüstensand kauern
oder in Nestern an Kirchenmauern? …

Sie senkten den Schnabel und hoben den Fuß, –
doch keiner kam zu einem Entschluss.
Da musste Gott sich denn selber bequemen,
den schwierigen Fall in die Hand zu nehmen.
Und er bedachte: den klügsten Geschöpfen
lastet stets der schwerste Verstand in den Köpfen
und lässt sie vor lauter Denken und Sinnen
nicht dazu kommen, ein Werk zu beginnen.
So sollten die Marabus mit ihrem Schweigen
der Welt ein Beispiel des Tiefsinns zeigen;
nicht hadern und zanken mit andern Tieren,
sondern allezeit nur philosophieren. —

Drum steht, den Schnabel tief gesenkt,
seitdem der Marabu und denkt,
und überlegt und sinnt und trachtet,
und wird von aller Welt geachtet.

Erich Mühsam (1878-1934) wurde am 6. April 1878 in Berlin geboren und wuchs in Lübeck auf. Mühsam, der sich schon früh politisch engagierte, wurde 1896 der Schule verwiesen. 1900 zog er nach Berlin, wo er sich schnell den Künstlerkreisen anschloss. Seit 1903 stand er wegen anarchistischer Bestrebungen unter ständiger Polizeiaufsicht. Es folgten Reisen in die Schweiz und nach Wien. 1909 ließ er sich schließlich in München nieder. Mühsam, der Kontakte zu Pazifisten und Sozialdemokraten pflegte, wurde 1919 wegen Hochverrats zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, aus der er 1924 auf Bewährung entlassen wurde. 1933 wurde er von der SA verhaftet und am 2. Februar 1934 in das KZ Oranienburg deportiert. Erich Mühsam wurde in der Nacht zum 10. Juli ermordet.

Quelle & Rechte: Britta Dörre,  zenit.org. The Cathwalk empfiehlt seinen Leser das Abonnieren des kostenlosen Zenit.org-Newsletter

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