Von Simon Bannwart
Papst Franziskus wird von den Medien zum Papst der Armen hochgejubelt. Im November 2013 veröffentlichte er seine Antrittsenzyklika Evangelii gaudium, welche weitgehend von seinem Vorgänger Benedikt XVI. vorbereitet wurde. Während der Schwerpunkt auf der Neuevangelisierung liegt, wird im 2. Kapitel die Wirtschaft, Vergötterung und Regierung des Geldes sowie die soziale Ungleichheit angeprangert. Die Kritik an der gängigen Wirtschaftsordnung hat eine lange Tradition. Vor dem Hintergrund der katholischen Soziallehre haben katholische Denker bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Antwort auf die Ungerechtigkeiten das eher unbekannte Konzept des Distributismus entwickelt.
1891 begründete Papst Leo XIII. in der Enzyklika Rerum Novarum, auch bekannt als „Mutter aller Sozialenzykliken“, die katholische Soziallehre. Der Papst beschreibt die Ausgangslage im Allgemeinen so: das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; die einstigen Genossenschaften der arbeitenden Klassen wurden durch die Umwälzung im Rahmen der Industrialisierung zerstört; Sozialisten stacheln die Arbeiter gegen die Reichen auf, indem sie das Recht zum Besitz privaten Eigentums in Frage stellen.
Das Naturrecht als Grundlage
Papst Leo XIII. ist der Ansicht, dass der Mensch sich die durch körperlichen Fleiß und geistige Sorge bearbeitete Natur gerechterweise als Eigentum anschafft. Dieses Eigentum ist dazu notwendig, dass der Familienvater den Lebensunterhalt für seine Kinder sicherstellen kann – wie es dem Gesetz der Natur entspricht. Die Ausbeutung Notleidender und das Vorenthalten eines gerechten Lohnes verurteilt die Enzyklika als eine himmelschreiende Sünde (vgl. Jak 5,4). Ungleichheiten seien aufgrund der Ungleichheit in den Anlagen, im Fleiß, der Gesundheit und der Kräfte unumgänglich und treiben den Menschen an, eine Leistung zu erbringen.
Da der Reichtum dem Seelenheil jedoch tendenziell schadet, (vgl. Mt 19,23 f.) verpflichtet die Kirche den Reichen zur Wohltätigkeit und Almosen, also dem gerechten Gebrauch des Besitzes. Die Aufgabe des Staates ist, es dem Arbeitenden zu ermöglichen, durch Sparsamkeit seinen Besitz zu vermehren. Papst Leos Sicht des Staates als Rechts- und Wohlfahrtsstaat widerspricht der liberalistischen Auffassung, welche im Staat nur den Wächter der Rechtsordnung erblicken will. Wenn es den niederen Klassen gelänge, kleinen Grundbesitz zu erwerben und selbst zu bewirtschaften, würden die Gegensätze von äußerster Armut und aufgehäuftem Reichtum mehr und mehr verschwinden. Das Rundschreiben schließt mit dem Aufruf an Arbeitgeber und -nehmer, gemeinsam bei Maßnahmen und Einrichtungen mitzuwirken, um als Mitglied derselben den Notstand zu lindern und die Klassen innerhalb der Gesellschaft einander näherzubringen.
Auf den Tag 40 Jahre später nimmt Papst Pius XI mit der Enzyklika Quadragesimo Anno die Thematik bewusst wieder auf. Er sieht, wie viele Punkte des Schreibens Rerum Novarum umgesetzt wurden, und lobt Leos Werk als die sichere Unterlage aller christlichen Sozialarbeit. Da jedoch einige Fragen unbeantwortet blieben, sollte diese Enzyklika bestehende Unklarheiten regeln. Auch Pius XI. kritisiert, wie das Kapital die gesamten Erträge für sich beanspruchen will, ohne dem Arbeiter Kapitalakkumulation zu ermöglichen. Auf der anderen Seite existieren widerrechtliche Ansprüche des Arbeitenden auf die Erträge, abzüglich eines Mindestbedarfs zur Kapitalerhaltung und -erneuerung des Geldgebers. Bei der Bemessung der Anteile soll das Gesamtwohl der menschlichen Gesellschaft ausschlaggebend sein, jedem soll sein Anteil zukommen.
Die schwer gestörte Verteilung der Erdengüter muss in Übereinstimmung mit den Forderungen des Gemeinwohls gebracht werden. Zur Festlegung des gerechten Lohnes seien drei Punkte zu betrachten: der Lebensbedarf des Arbeiters und der Arbeiterfamilie, die Lebensfähigkeit des Unternehmens, sowie die allgemeine Wohlfahrt (dem Vorbeugen von Arbeitslosigkeit). Als Folge der Wettbewerbsfreiheit sieht der Papst eine Zusammenballung von Macht bei den Beherrschern und Lenkern des Finanzkapitals. Der freie Wettbewerb zerstöre sich selbst, indem die „Vermachtung“ der Gesellschaft die freie Marktwirtschaft ablöse.
Selbst Staaten, die sich selbstlos um das Gemeinwohl und um Gerechtigkeit kümmern sollten, werden für selbstsüchtige Interessen instrumentalisiert. Zum Übel des überstiegenen Nationalismus und Wirtschaftsimperialismus gesellt sich neu ein Imperialismus des internationalen Finanzkapitals. Obwohl der gelinderte Sozialismus in einigen Punkten mit der christlichen Gesellschaftauffassung übereinstimmt, seien die Gegensätze unüberbrückbar, Katholik und gleichzeitig Sozialist zu sein, wäre unmöglich. Als einziges wahres Heilmittel für die Wirtschaft und Methode einer gesellschaftlichen Erneuerung sieht der Nachfolger Petri die aufrichtige und vollständige Rückkehr zur Heilslehre der Frohbotschaft und den Geboten Gottes.
Die Idee Chestertons: Distributismus
Auf der Grundlage dieser Texte vertraten katholische Denker, wie Gilbert Keith Chesterton − im deutschen Sprachraum hauptsächlich für die Kurzgeschichten um Father Brown bekannt – oder Hilaire Joseph Pierre Belloc die ökunomische Theorie des Distributismus. Dieser dritte Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus forderte einerseits breit verteiltes Wohneigentum und Kontrolle der Industrie durch inhabergeführte, kleine Unternehmen sowie durch die Belegschaft geführte Genossenschaften. Möglichst viele Arbeiter sollten befähigt sein, ihren Lebensunterhalt selbständig zu erwirtschaften, ohne auf den Besitz von anderen zurückgreifen zu müssen.
Zur Veranschaulichung nutzt G. K. Chesterton in „Whats Wrong with the World“ (1910) das Beispiel von „three acres and a cow“ (dt. drei Hektar Land und eine Kuh). Der „distributive Staat“, wie ihn Belloc in „The servile state“ (1920) beschreibt, ist eine Agglomeration von Familien mit unterschiedlichem Wohlstand, jedoch einer weit größeren Menge Eigentümer der Produktionsmittel. Durch die Existenz von Kooperativen wird die Distribution sichergestellt, die Eigenständigkeit des kleinen Besitzers geschützt und die Gesellschaft von einem Proletariat befreit.
Im Kontrast zu entlang der Klassen organisierten Gewerkschaften werden Zünfte mit gleichermaßen Arbeitgeber- und Arbeitsnehmer-Vertretern bevorzugt; Genossenschaftsbanken werden gegenüber rein profitorientierten Bankinstituten präferiert. Seinen Weg in die Gesetzgebung gelang Ideen des Distributismus mit Bestimmungen gegen Monopole und Kartelle (Antitrust), welche in ihren Anfang am Ende des 19. Jahrhunderts in den USA fanden und in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erst in Europa, später auch anderen Teilen der Welt übernommen wurden. Diesem liegt die Hypothese zugrunde, dass die Verteilung der Marktmacht auf nur wenige Machtzentren dem Gemeindewohl entgegenläufig sei.
Ein eindrückliches Beispiel für eine Unternehmung im Geiste des Distributismus ist die Mondragón Corporación Cooperativa. In der Folge des Spanischen Bürgerkrieges versuchte der Priester José María Arizmendiarrieta der hohen Arbeitslosigkeit in der baskischen Kleinstadt Mondragón entgegenzuwirken. Er gründete mit Hilfe der Bevölkerung 1943 eine technische Berufsschule, wobei er den jungen Schülern auch humanistische Prinzipien wie Solidarität und Mitbestimmung im Geiste der katholischen Soziallehre beibrachte.
Distributismus heute
Der Priester wählte fünf Abgänger aus, um mit ihnen 1954 eine erste Produktionsgenossenschaft zu gründen. Im Laufe der Jahre folgte die Gründung einer Vielzahl weiterer Genossenschaften, auch in anderen Ländern, sowie eines eigenen Finanzinstitutes, der „Caja Laboral Popular“ zur Versicherung der Genossenschaftler und Beratung und Entwicklung der einzelnen Betriebe. Die Mitarbeiter der unterschiedlichen Genossenschaften waren am genossenschaftlichen Unternehmensverbund beteiligt. Die ursprünglichen Organisationsprinzipien waren Arbeitsplatzbeschaffung vor Kapitalinteressen, Kapital im Eigentum der Arbeitenden, begrenzte Lohnunterschiede unter den Genossenschaftern (anfangs 1:3, heute 1:8), eine gleichmäßige Gewinnverteilung und eine demokratische Organisation der Unternehmen. Bis heute ist Mondragon zur größten Genossenschaft der Welt und einem der größten Unternehmen in Spanien angewachsen und damit ein eindrücklicher Beweis dafür, dass die Anwendung katholischer Unternehmensgrundsätze auch in der Privatwirtschaft funktioniert.
Die Idee des Distributismus ist nicht tot, führt jedoch ein Schattendasein, insbesondere, weil es immer noch Vertreter gibt. Prof. John Médaille argumentierte zuletzt mit „Toward a Truly Free Market“ 2010 aus ökonomischer Sicht für die Theorie des Distributismus, indem er die heutige Wirtschaftswelt und seine Kriese analysiert und distributistische Lösungsschritte nahelegt. Eine Alternative zu heute angewendeten Wirtschaftsordnungen existiert. Ob sie auch in der Praxis auf der Ebene einer Volkswirtschaft funktioniert, müsste sich erst noch zeigen. Sicher indessen ist, dass durch die Zusammenfügung von Moralität und Ökonomie eine interessante Theorie entstanden ist, die sich − zumindest betriebswirtschaftlich – bereits bewährt hat.